
Ich treffe meinen Vetter Jenö in seinem Haus in der Nähe des
Basler Aeschenplatz zum Kaffee.
Die Staehelins sind eine alteingesessene Basler Familie. Wie lebt man mit diesem Namen?
Jenö Staehelin: Wie jeder andere.
Wie Herr Meier und Frau Müller?
(Zögert) Ja. Wenn ich durch die Stadt gehe, überlege ich mir nicht, wie ich heisse.
Und überlegen sich die anderen Leute, wie du heisst? Ist da Missgunst oder Respekt?
Beides wäre fehl am Platz. Es kommt immer auf die Person drauf an, nicht auf den Namen. Aber ja, einige Personen denken sich: «Der ist privilegiert, wieso bin ich es eigentlich nicht?» Diese Personen sehen aber immer nur, wo man es leichter gehabt hat. Wo man es schwerer gehabt hat, sehen sie nicht. Für mich ist dieses Thema aber sowieso nebensächlich.
Wie hast du das erkannt?
Im Ausland hat der Name Staehelin keine Bedeutung. Dort musste ich mich immer wieder neu beweisen.
Und wie hast du dich diesbezüglich gefühlt, bevor du weggegangen bist?
Ich hatte immer das Bedürfnis, aus Basel wegzugehen. Aber nicht allein wegen des Namens. Die Umgebung, in der ich aufwuchs, bot mir nicht die Freiheiten, die ich mir wünschte. Ich habe deswegen nie in Basel studiert. Ich fühlte mich hier, als sei ich in eine Schablone hineingepresst.
Welche Schablone?
Früher bestand da ein viel stärkeres Korsett als heute. Man hatte engeren Kontakt, die gleichen Familien haben immer untereinander verkehrt und geheiratet.
Damit das Vermögen in der Familie bleibt?
Ich glaube nicht, dass das der Grund war. Nicht alle waren wohlhabend, zum Beispiel Pfarrer oder Professoren. Man hat sich einfach weniger gemischt, kannte nur diese Leute, ging nicht wie heute selbstverständlich in den Fussballklub.
Du bist nicht der Einzige, dem das so ging. Mein Grossvater zog von Basel nach Zürich, weil er sich in seinem Korsett ebenfalls unwohl fühlte.
Und hat er euch dieses Gefühl weitervermittelt?
Ich kann das nicht mehr beurteilen, dafür ist Basel für mich emotional zu weit weg. Mein Vater allerdings hat seinen Nachnamen noch von Staehelin zu Stähelin geändert, um sich zu distanzieren. Dieser Umlaut scheint familienintern eine wichtige Rolle zu spielen.
Er ist von Vorteil, wenn man im Ausland reist. In vielen Ländern kennen sie keine Umlaute, da vereinfacht die ae-Schreibweise vieles.
Aber sie gilt auch als edler.
(Lacht) Ja? Aber jetzt sag mal, interessiert dich dieses Familienthema jetzt nur wegen dieses Interviews oder beschäftigt es dich wirklich?
Es beschäftigt mich sehr. Ich finde diese Familientradition spannend, weiss allerdings noch nicht, wie ich mich zu ihr stellen soll. Ich stelle aber grundsätzlich fest, dass in meiner Generation das Interesse an den eigenen Wurzeln wieder zunimmt, während das in der Generation meiner Eltern gar nicht en vogue war.
Im Gegenteil, sie hat sich wahrscheinlich dagegen aufgelehnt. Dass deine Generation das wieder anders sieht, finde ich natürlich nicht schlecht. Aber man darf diese Dinge nicht zum Zentrum seines Lebens machen.
Wie gehe ich denn jetzt am besten mit meinem Nachnamen um?
Man muss ihn als Privileg entgegennehmen. Und er verpflichtet.
Wozu?
Zu einer gewissen Haltung und dazu, etwas aus seinem Leben zu machen. Keiner soll sagen, du seist nur aufgrund deines Namens durchs Leben gesegelt.
Und das Privileg?
Das Privileg besteht darin, eine Verankerung zu haben, zu wissen, zu etwas dazuzugehören. Ich habe das als Diplomat stark gespürt. Ich habe an vielen Orten auf der Welt gelebt, und Basel ist die einzige Stadt, in der ich nicht begründen muss, warum ich hier bin.
Du redest jetzt sehr offen. Grundsätzlich spricht man aber nicht gern über den Daig, stimmts?
Ich zumindest nicht, nein.
Ist der Daig verschwiegen?
Nein, das hat nichts mit Verschwiegenheit zu tun. Von aussen wird das Ganze einfach überbewertet. Aber klar, es gab und gibt Leute im Daig, die etwas bewirkt haben. Und wenn man dazugehört, kann man darauf auch stolz sein. Ich will das Ganze nicht runtermachen, will es aber auch nicht ins Zentrum stellen.
Die Schichten haben sich gemischt. Wie weiter mit den Staehelins?
Das ist schwer zu sagen. Sie werden sich auf jeden Fall nicht mehr so stark mit den Daig-Familien Burckhardt oder Merian und wie sie alle heissen verheiraten. Heute heiraten Staehelins Leute mit Namen, über die sich meine Grosseltern vielleicht noch gewundert und gefragt hätten: «Wer ist denn das?»
Themawechsel: Du warst zwischen 1997 und 2004 für die Schweiz bei der UNO in New York und hast dazu beigetragen, dass unser Land seit 2002 dort Mitglied ist. Was wäre, wenn das Schweizervolk damals Nein gesagt hätte?
Die Schweiz hätte noch mehr Probleme, als sie es ohnehin schon hat. Es wäre noch schwieriger, der Aussenwelt verständlich zu machen, warum sie überzeugt ist, dass sie durch Nichteinmischung und durch Abgrenzung einen positiven Beitrag leistet. Wir kennen unsere Probleme in Europa, wo wir nicht mehr viele Freunde haben. Wenn dieses Bild auch weltweit vermittelt worden wäre, hätte das unserem Ruf nicht gutgetan.
Wie genau schaut dieses Bild aus?
Es wird gezeichnet von manchen Schweizern, die denken, wir seien besser als der Rest der Welt. Sie sagen: «Ihr sollt euch ruhig in der UNO streiten, es bringt sowieso nichts.» Die Schweiz hat andererseits in der Dritten Welt immer noch einen sehr guten Ruf, der ist durch den UNO-Beitritt gefestigt worden. Dies aus dem Grund, weil wir in der UNO eines der wenigen Länder sind, das ohne strategischen Hintergedanken konstruktiv versucht, Lösungen für die Probleme zu finden, mit denen die Welt konfrontiert ist.
Und wie fühlen wir Schweizer uns in dieser Haut?
Ich stelle bei manchen eine Kombination von Minderwertigkeitsgefühlen und Arroganz fest. Manchmal denken wir, dass niemand in der Welt uns liebt. Dabei ist das nicht richtig. Wir haben ein sehr gutes Image als neutrales Land, das versucht, positiv mitzuarbeiten, Geld zur Verfügung stellt und dessen Staatswesen hervorragend funktioniert. Darum beneiden uns viele Länder.
Und die Arroganz?
Die kommt daher, dass wir den Sonderfall Schweiz so interpretieren, dass wir uns als Schulmeister aufspielen. Wir meinen zu wissen, wie man sich zu benehmen und wie man zu wirtschaften hat. Ja, wir haben viel Erfolg. Aber dieser beruht auch auf Glück: Wir waren nicht im Krieg, wir wurden nicht in Krisen hineingezogen.
Du meinst damit auch die Haltung vieler Politiker. Wolltest du nie selbst in die Politik?
Nein, ich war immer mehr international interessiert. Meine Mutter war Ungarin, mein Vater war viel herum gekommen. Ich wurde also früh für die Probleme interkultureller Kommunikation sensibilisiert. Ich habe dann eine völkerrechtliche Dissertation geschrieben, weil mich nicht nur die Regeln zwischen Menschen, sondern auch die zwischen Staaten interessierten. So bin ich Diplomat geworden.
Hast du in dieser Funktion Freunde gewonnen oder ist das nur Business?
Wenn man länger mit jemandem zusammenarbeitet, entwickeln sich sicher auch Freundschaften. Es kommt auf die Funktion an: Steht man in einem Konflikt mit einem Land, ist es schwieriger und wohl auch nicht sinnvoll, zu dessen Botschafter eine Freundschaft aufzubauen. Bei gleichgerichteten Interessen ist das einfacher. Ich musste mir in Japan beispielsweise nie überlegen, ob sich eine Freundschaft auf die Qualität meiner Arbeit auswirken würde.
Wie war deine Beziehung zu Kofi Annan?
Sehr gut. Und das ist sie immer noch, ich bin ja in seinem Stiftungsrat. Er war auch schon hier, wo wir gerade sitzen. Ich finde ihn menschlich und professionell sehr beeindruckend.
Und zu Micheline Calmy-Rey?
Ich bin mit ihr immer gut ausgekommen. Sie ist eine Frau, die den Mut hatte, Positionen zu vertreten, auch wenn sie nicht Mainstream waren. Sie engagierte sich für die Schweiz und hat das gut gemacht, auch wenn man dies in vielen Medien anders liest.
Einer ihrer kritischsten Momente war, als sie mit Kopftuch nach Teheran gereist ist.
Wenn eine Frau nach Teheran reist, muss sie ein Kopftuch tragen. Was ihr geschadet hat, glaube ich, ist, dass sie unter dem Kopftuch gestrahlt und keine grimmige Miene gemacht hat. Die Message war: «Kein Problem», dabei hätte sie sein müssen: «Ich fühle mich unwohl.» In solchen Momenten muss man wahnsinnig aufpassen, wie man sich gibt.
Musstest du das auch manchmal beherzigen?
Ich habe immer darauf geachtet, dass ich kein Sektglas in der Hand hatte, wenn Fotografen in der Nähe waren. Sonst hätte es geheissen: «Das Diplomatenleben besteht aus Champagner trinken.» Dabei besteht es aus viel mehr und ist keinesfalls immer so angenehm wie Cüpli-Schlürfen.