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Ukraine-Krieg

Historiker Sönke Neitzel über Munitionslieferungen an die Ukraine: «Es ist, als lebten die Schweizer auf dem Mars»

Gerade jetzt könnte der Gepard einen erheblichen Unterschied ausmachen, erklärt der deutsche Militär-Experte. Für die Blockadehaltung Berns hat Neitzel wenig Verständnis, doch auch mit der EU geht er hart ins Gericht: Deren Schwäche sei erbärmlich. 
«Die deutsche Regierung macht aus meiner Sicht immer drei Schritte vor und zwei zurück»: Militärhistoriker Neitzel.
Bild: AP / Imago

Herr Neitzel, kürzlich sagten Sie, der Krieg in der Ukraine befinde sich noch immer in seiner ersten Phase. Was wir erlebten, sei das Ende vom Anfang, nicht der Anfang vom Ende. Was für ein Verlauf erscheint Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt am wahrscheinlichsten?

Sönke Neitzel: Ein militärischer Sieg der Ukraine bestünde darin, die russischen Streitkräfte aus dem Land zu treiben und den Zustand vor dem 24. Februar wiederherzustellen. Das halte ich nach derzeitigem Stand für unwahrscheinlich. Genauso wenig sehe ich allerdings, dass Russland der Ukraine militärisch seinen Willen aufzwingen könnte, was auf einen Regimewechsel in Kiew oder eine Besetzung des ganzen Landes hinausliefe. Vermutlich stehen wir vor einem Patt.

All jene im Westen, die nach der ukrainischen Gegenoffensive bei Charkiw mit einer entscheidenden Wende rechneten, haben sich also Illusionen hingegeben?

Bei der Gegenoffensive hatten wir die Hoffnung, dass die russische Front zusammenbrechen könnte. Einen solchen Kulminationspunkt sehe ich trotz aller Schwierigkeiten, mit denen die russischen Streitkräfte zu kämpfen haben, nicht. Allerdings ist es für uns sehr schwierig, zu beurteilen, was in der russischen Armee abläuft. Dasselbe gilt übrigens für die ukrainische Seite. Wie deren Lage wirklich ist, weiss in Deutschland praktisch niemand aus erster Hand. Doch auch Briten und Amerikaner, die eher Einblick haben, rechnen nicht damit, dass die Ukraine momentan stark genug ist, um die Russen zu verjagen.

Je länger der Konflikt andauert, desto eher dürfte das Interesse des Westens schwinden. Die Zeit spielt wohl eher für die Russen.

Das ist durchaus umstritten. Es gibt auch Stimmen, die sagen, sollte Europa den Winter durchstehen, werde das gesamte Geschäftsmodell, auf dem die russische Volkswirtschaft basiert, also der Export von Energie nach Europa, zusammenbrechen. Zudem verlassen seit der Teilmobilmachung Hunderttausende das Land. Andere meinen dagegen, dass wir nun vor einem Winter stehen und soziale Unruhen in Europa erleben könnten. Dies spreche ebenso für die Russen wie die bevorstehenden Zwischenwahlen in den USA, bei denen wohl die Republikaner siegen werden. Das Glas ist also je nach Sichtweise halb voll oder halb leer.

Sie würden sich in dieser Debatte aber auf keine Seite schlagen wollen?

Wenn ich mit Leuten rede, die nachrichtendienstliche Dokumente lesen dürfen, die ich selbst nicht lesen darf, sehe ich, dass es auch in diesen Kreisen beide Denkschulen gibt. Viel dürfte auch von der russischen Kriegführung und den Bildern, die dabei entstehen könnten, abhängen. Der Terror, den Russland derzeit verbreitet, dürfte den Zusammenhalt des Westens eher stärken, weil dadurch allen klar wird, dass man mit Putin nicht verhandeln kann. Doch das kann in ein paar Monaten schon wieder anders aussehen: Putin ist ein Chamäleon. Mal steigt er aus einem Getreideabkommen aus, dann steigt er wieder ein.

Eine deutsche Rarität

In Deutschland ist Sönke Neitzel ein Unikum: Der 54-Jährige ist der einzige Professor für Militärgeschichte in der Bundesrepublik. An vielen deutschen Hochschulen gelte die Zivilklausel, also ein Kooperationsverbot mit der Bundeswehr, erklärte er im April der Tageszeitung «Die Welt». Forschung, wie er sie betreibe, sei im universitären Raum verpönt. Seit 2015 lehrt Neitzel in Potsdam, davor wirkte er an der London School of Economics. Zuletzt erschien von ihm: «Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik». (hfm)

Sie erwähnten die Zwischenwahlen in den USA. Sollte Amerika das Interesse an dem Konflikt verlieren, könnte die Ukraine verloren sein.

Die Einzigen, die wirklich entscheidend sind, sind in der Tat die Amerikaner. Sie haben zwei Divisionen zusätzlich in Europa stationiert; damit befinden sich so viele amerikanische Truppen in Europa wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die Franzosen haben gerade einmal 800 Mann nach Rumänien geschickt. Vor allem bei den Republikanern, aber auch unter Demokraten gibt es Stimmen, die das amerikanische Engagement zurückfahren wollen. Die Gegenoffensive der Ukraine wäre ohne amerikanische Waffenlieferungen und Geheimdienstunterstützung gar nicht möglich gewesen. Wir sind 450 Millionen EU-Bürger und scheinen dennoch nicht in der Lage zu sein, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie überlebt. Das ist ein erbärmlicher Befund.

Vor allem Deutschland wird seit dem Ausbruch des Krieges gescholten: Bei Waffenlieferungen verhalte sich die Bundesrepublik allzu zögerlich. Haben die Kritiker recht?

Die deutsche Regierung macht aus meiner Sicht immer drei Schritte vor und zwei zurück. Bundeskanzler Olaf Scholz hält einerseits Reden, die ich bemerkenswert positiv finde, etwa seine Ansprache zur Zeitenwende im Februar oder auch unlängst ein Vortrag auf einer Bundeswehrtagung, wo er sinngemäss sagte, wenn er ankündige, dass deutsche Soldaten Litauen verteidigen würden, meine er dies auch ernst. Dann aber heisst es, Deutschlands Versprechen, eine Brigade nach Litauen zu verlegen, sei nicht so gemeint gewesen.

Scholz sagt, kein Land schicke so viele Waffen in die Ukraine wie Deutschland.

Ich weiss nicht, wie er zu einer solchen Aussage kommt. Egal, ob in absoluten Zahlen, oder gemessen am Bruttoinlandprodukt: Auf keiner Liste steht Deutschland an der Spitze. Vielleicht gibt es Lieferungen, über die nicht öffentlich gesprochen wird. Ich halte Scholz’ Äusserung für eine Nebelkerze. Auch hier werden die Deutschen wieder einmal zum Jagen getragen. Erst liefern sie keine schweren Waffen. Als sie sehen, dass sie damit nicht durchkommen, liefern sie Luftabwehrraketen. Jetzt macht man gerade so viel, dass man sich innerhalb der Nato in der Mitte oder am Ende des Konvois einordnet. Und jeder Schritt, den man geht, wird der Öffentlichkeit wie bei einer PR-Agentur mehrfach verkauft.

Sonderlich erfolgreich scheint diese PR-Strategie nicht zu sein. Die Kritik an Deutschland reisst ja nicht ab.

Weil die Kommunikation oft so schlecht ist, dass man das Kapital, das man eigentlich gewinnen könnte, wieder verliert. Bei den Panzern war die Begründung, die Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt lieferte, so haarsträubend, dass jedem klar war, dass man in Wahrheit nicht lieferte, um auf den linken Flügel der SPD Rücksicht zu nehmen. Wer Unsinn erzählt, indem er die Forderung nach Leopard-2-Panzern mit der Hoffnung der Nazis auf die Wunderwaffe V-2 vergleicht, verliert Vertrauen. Dadurch stehen die Deutschen in der Wahrnehmung schlechter da, als sie eigentlich sind, schliesslich tun sie eher mehr als die Franzosen oder die Italiener.

Mit der Schweiz streitet Deutschland wegen der Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard. Berlin würde gerne an die Ukraine liefern, doch die Schweiz als Herstellerland erteilt keine Ausfuhrgenehmigung. In der Schweiz meinen manche, Deutschland wolle vor allem von eigenen Versäumnissen abzulenken.

Die Geschichte begann 2011 – mit dem Fehler der Deutschen, die Heeresflugabwehr abzuschaffen. Man hielt sie für zu teuer und wollte sich lieber auf internationale Krisenmissionen konzentrieren. Damit stellte man auch die Munitionsproduktion ein. Gerade jetzt, angesichts russischer Angriffe auf die kritische Infrastruktur der Ukraine, könnte der Gepard einen erheblichen Unterschied machen. Und nun ist es ein bisschen so, als ob die Schweizer sagten, wir leben nicht auf dieser Welt, wir leben auf dem Mars, denn wir sind ja neutral.

Für die Schweizer Neutralität scheinen Sie wenig Verständnis aufzubringen.

Ich habe ein Jahr in der Schweiz gelebt und weiss natürlich, was die Neutralität für das Selbstverständnis des Landes bedeutet. Aber bei aller Liebe: Die Schweiz ist ein Teil des Westens, ob sie dies nun will oder nicht. Es geht ja nicht darum, dass demnächst Schweizer Kampfjets über Kiew fliegen, sondern um deutsche Munition, die in der Schweiz hergestellt wurde.

Sie haben einmal gesagt, Sie hielten die derzeitige Situation in Europa für gefährlicher als im Kalten Krieg. Warum?

Letztlich wollten beide Seiten im Kalten Krieg den Status quo erhalten; auch die sowjetischen SS-20-Raketen dienten der Abschreckung. Seit Mitte der Siebzigerjahre gab es eine Entspannungspolitik, und man hatte immer einen direkten Draht zueinander. Putin aber steht mit dem Rücken zur Wand. Eine solche Konfrontation gab es im Kalten Krieg nie. Damals führte man Stellvertreterkriege in Äthiopien oder Afghanistan, aber doch nicht in Polen oder der Tschechoslowakei. Breschnew fühlte sich nie in einer Weise bedroht wie Putin.

In Europa fürchten sich manche vor einem Atomkrieg. Russland schürt solche Ängste, doch sind sie vollkommen unberechtigt?

Wenn wir Deutsche vom Nuklearkrieg reden, denken wir immer an die thermonukleare Katastrophe und den Untergang der Welt. Damit rechnet aber kein Experte; wenn überhaupt über nukleare Bedrohungen geredet wird, geht es darum, sogenannte Mininukes oder taktische Nuklearwaffen einzusetzen, um die eigene Macht zu demonstrieren. Das halte ich allenfalls für möglich, wenn die russische Front zusammenbräche und die Krim in Gefahr geriete. Aber selbst taktische Nuklearwaffen eignen sich kaum, um in diesem Krieg den Vormarsch der Ukrainer aufzuhalten. Leute, die mehr Einblick in diese Dinge haben als ich, diskutieren solche Optionen nicht. Und wir sehen ja auch keine Erhöhung der Alarmbereitschaft bei den Nuklearstreitkräften.

Verhandlungen mit Putin seien nicht möglich, heisst es immer wieder. Aber könnten sie nicht irgendwann unumgänglich sein, wenn – wie Sie sagen – keine Seite siegen kann?

Natürlich wünschen wir uns Frieden, und dafür braucht es Verhandlungen. Aber was spricht eigentlich dagegen, dass die Kampfhandlungen irgendwann einfach abebben, ohne einen erklärten Frieden oder Waffenstillstand? Dann würde der Konflikt vor sich hinsimmern. Selbst wenn es einen Waffenstillstand gäbe, ist doch klar, dass damit noch keine Lösung des Konflikts erreicht wäre. Auch ein Friedensschluss wäre in der jetzigen Situation nur eine Pause.

Der russisch-ukrainische Konflikt könnte also auf lange Sicht unser Leben prägen – so wie der Kalte Krieg dasjenige früherer Generationen?

Ich rechne mit einem langen Konflikt. Mit einer Lösung müssten beide Seiten zufrieden sein, und diese Möglichkeit sehe ich derzeit nicht: 90 Prozent der Ukrainer wollen das ganze Land zurückerobern, inklusive des Donbass und der Krim. Für viele Russen ist selbst der Zustand vor dem 24. Februar nicht akzeptabel. Als Historiker weiss ich, dass sich Russen und Türken 250 Jahre lang bekämpft haben. Irgendwann hörte ich auf, die russisch-osmanischen Kriege zu zählen, weil ich dabei durcheinanderkam.