Herr Münkler, unter Donald Trump haben sich die USA und Russland einander angenähert; eine Verständigung über die Köpfe der Ukrainer, aber auch der übrigen Europäer hinweg erscheint möglich. Erleben wir gerade das Ende der Gemeinschaft, die wir den Westen nennen?
Herfried Münkler: Wahrscheinlich, auch wenn einige Politiker glauben, man könne Trump noch irgendwie dazu bewegen, die Sicherheitsgarantien für Europa aufrechtzuerhalten und Distanz gegenüber Putin zu wahren. Aber nach all dem, was wir erlebt haben, von der Erklärung, er wolle Grönland in Besitz nehmen, über das Nachbeten russischer Narrative, wonach Selenski ein Diktator sei, bis hin zu dem imperialistischen Druck, den Trump nun auf Europa und die Ukraine ausübt, gibt es eigentlich keinen Grund mehr, ihm zu vertrauen. Und Vertrauen ist das Bindeglied, von dem solche Bündnisse leben.
Versuche wie jener des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Trump für sich einzunehmen, sind demnach sinnlos?
Greifbare Ergebnisse haben sie bis jetzt jedenfalls nicht gebracht. Aber der Ball lag im Feld der Franzosen. Die Deutschen haben bis zum Schluss auf die transatlantischen Verbindungen gesetzt; vor allem sie müssen sich nun durch Trump düpiert fühlen. Dabei haben sie den Franzosen die kalte Schulter gezeigt, wenn diese Vorschläge machten, die auf eine stärkere Europäisierung der Verteidigungsfähigkeit hinausliefen. Teure Waffensysteme kauften die Deutschen vor allem in Amerika, auch weil sie dadurch Entwicklungskosten sparen konnten. Nun ist die transatlantische Bindung als das zentrale strategische Element der Deutschen obsolet geworden.
Schon Barack Obama sprach von einer stärkeren Hinwendung Amerikas nach Asien. Wirkt Trump, was die Abwendung von Europa angeht, als Beschleuniger von Prozessen, die ohnehin im Gang waren?
Das ist möglich, doch hätten sich, was Asien betrifft, Europa und die USA auf gemeinsame Initiativen verständigen können. Deutschland hat letztes Jahr eine Fregatte in die Strasse von Taiwan geschickt, was einigen Ärger mit China hervorgerufen hat. Doch solche Entgegenkommen haben Trump offenbar nicht interessiert. Stattdessen hat er die Europäer gedemütigt. So macht er es auch jetzt: Er will ein Rohstoffabkommen mit der Ukraine abschliessen, das vor allem für die USA vorteilhaft ist, weil die Amerikaner für die Verteidigung der Ukraine aufgekommen seien. Tatsächlich kamen 60 Prozent der Aufwendungen von den Europäern.
Trump sucht die Konfrontation mit China. Meint er, Wladimir Putin dafür als Verbündeten gewinnen zu können?
Es ist schwer zu entschlüsseln, welche langfristige Strategie Trumps Vorgehen bestimmt. Im Fall Chinas könnten die Europäer mit ihrer wirtschaftlichen Macht ein sehr viel wichtigerer Verbündeter sein als Russland. Als «Dealmaker» denkt Trump offenbar sehr kurzfristig und schadet dadurch amerikanischen Interessen. Der chinesische Aussenminister reagierte auf die Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance in München, indem er sagte, Peking sei der Verfechter des freien Welthandels. Das stimmt so zwar nicht, aber es war geschickt. Den Europäern gab er damit zu verstehen: Wenn ihr Probleme mit eurem bisherigen Beschützer habt, tut euch doch mit uns zusammen.
Sie befürchten ein Abgleiten der USA ins autoritäre Lager. Aber muss in einem so grossen, dezentral organisierten und vielfältigen Land nicht fast zwangsläufig erheblicher Widerstand aufkommen? Schon das politische System ist geradezu darauf angelegt, dass sich die Gewalten gegenseitig blockieren.
Die Amerikaner sind in der Tat die Erfinder der Checks and Balances, aber vom Supreme Court dürfte nicht viel kommen: Trump hat ihn mit seinen Leuten besetzt. Den Oberkommandierenden der Streitkräfte hat er gefeuert. Die Zivilgesellschaft, die sich ihm entgegenstellen könnte, ist kein starker Akteur. Das einzige Mittel, das sie hat, sind im Grunde Demonstrationen. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob die amerikanischen Institutionen vier Jahre lang als Gegenmacht durchhalten werden.
Warum handelt Trump, wie er handelt? Bewundert er autoritäre Herrscher wie Putin oder unterschätzt er sie und glaubt, sie über den Tisch ziehen zu können?
Es ist schwierig, in Trumps Psyche einzudringen. Das Einzige, was man sicher sagen kann, ist, dass er seine Meinung sehr rasch ändert. Er fühlt sich wohl am besten aufgehoben, wenn er es nicht mit einem institutionellen Geflecht zu tun hat, sondern mit einzelnen Personen, sodass er glaubt, das, was er «Dealmaking» nennt, durchziehen zu können. Da sind ihm Leute wie Putin näher als die EU.
Welche Rolle spielen Unternehmer wie Elon Musk für Trumps Politik? Entsteht in Amerika eine Plutokratie, in der vor allem geschäftliche Interessen Einzelner entscheidend sind?
Man könnte von einer Plutokratie sprechen oder analog zu dem, was in Russland einmal war, von einer Oligarchie jener Leute, die Trump in Mar-a-Lago um sich schart. Da werden dann auch solche Signale wie die Sitzordnung bedeutend: Wer darf an Trumps Tisch sitzen und wer nicht? All das erinnert eher an dynastische Verhältnisse als an die Mechanismen einer demokratischen Republik.
Ist Trump ein Werkzeug Musks oder verhält es sich eher umgekehrt?
Ich denke, sowohl als auch. Musk ist für Trump wichtig, wenn es etwa darum geht, Selenski zum Unterzeichnen eines Rohstoffabkommens zu nötigen, das nicht den ukrainischen Interessen entspricht. Musk könnte Starlink ausschalten, sodass die ukrainische Armee nicht mehr kommunikationsfähig wäre. Umgekehrt profitiert Musk von Entscheidungen der amerikanischen Regierung. Vances Auftritt in München sollte wohl auch das Feld für X, das frühere Twitter, planieren: Wenn solche Unternehmen keine Faktenchecks mehr durchführen müssen, ist das gut für ihre Rendite. Dann nützt Musk wiederum Trump, indem er Äusserungen auf X, die Trump nicht gefallen, in ihrer Reichweite einschränkt und andere fördert. Musk sitzt dort gewissermassen an den Reglern des Hörbaren.
Wie stellt sich nun, da die amerikanische Beistandsgarantie obsolet ist, die Lage für Länder wie Polen und die baltischen Staaten dar? Ist die Gefahr eines russischen Angriffs real oder ist Russland nach seinen Mühen in der Ukraine dazu nicht mehr in der Lage?
Die Russen haben anfänglich die ukrainische Armee unterschätzt und ihre eigenen Fähigkeiten überschätzt. Doch um das russische Kalkül zu verstehen, muss man auch auf das Schwarze Meer schauen. Da ist die Ukraine nur ein Baustein. Andere Bausteine waren Georgien oder Armenien, wo Russland auch mit kriegerischen Mitteln präsent war. Auf der anderen Seite des Meeres gab es Interventionen in Moldawien oder eine hybride Kriegsführung, wie wir sie bei der Präsidentschaftswahl in Rumänien gesehen haben. Die Ostsee spielt eine ähnliche Rolle in Putins Denken. Seit Peter dem Grossen war Russland dort eine Macht; seit dem Ende des Kalten Krieges ist es das nicht mehr. Aus diesem Grund überzieht Putin Länder wie Lettland und Estland mit hybrider Kriegsführung, und ab und zu macht er im Ostseeraum auch Stress mit Schiffen oder Flugzeugen.
Sind die Europäer fähig und willens, zumindest einen Teil der wegbrechenden amerikanischen Unterstützung für die Ukraine auszugleichen? Oder wird sich nun eine defaitistische Haltung in Europa durchsetzen?
Die Europäer werden die Ukraine sicher weiterhin unterstützen, denn daran, dass Putin das ganze Land übernimmt, können sie kein Interesse haben. Was konventionelle Waffen betrifft, können die Europäer fehlende amerikanische Unterstützung relativ gut ausgleichen, wobei noch mehr möglich wäre, wenn man bereits bei Kriegsbeginn damit begonnen hätte, von einer quasi handwerklichen auf industrielle Produktion von Panzern und Artillerie umzustellen. Schwieriger wird es bei der Frage der Kommunikation und der Satellitenaufklärung. Auf diesen Gebieten wird sich der Ausfall amerikanischer Unterstützung kaum kompensieren lassen.
Teilen Sie die weitverbreitete Meinung, Deutschland habe drei Jahre verschwendet, nachdem Kanzler Scholz nach dem russischen Einmarsch eine «Zeitenwende» konstatierte und eine Ertüchtigung des Militärs ankündigte?
Unter dem Strich ist zu wenig zu spät passiert, auch wenn Deutschland mit der Zeit durchaus ein ordentliches Tempo hingelegt hat: Die Leopard- und die Marder-Panzer sind so etwas wie das belastbare Rückgrat der ukrainischen Verteidigung, während die amerikanischen Abrams- und die französischen Leclerc-Panzer keine grosse Rolle spielen. Allerdings hat auch die Sorgfalt der Deutschen dazu beigetragen, dass sie kaum noch kriegsfähig waren: Anders als die Russen haben sie alte Munition entschärft und entsorgt, weil sie deren Aufbewahrung für zu gefährlich hielten. Für die Russen spielt so etwas keine Rolle, da fliegt so ein Depot halt auch einmal in die Luft.
Glauben Sie, dass eine Mehrheit der Deutschen Ihre Ansicht teilt, die Bundesrepublik müsse mehr für die Verteidigung tun?
Die Einsicht, dass Deutschland seine Abwehrfähigkeit hochfahren muss, wird von einem Grossteil der Bevölkerung geteilt. Dass Boris Pistorius als erster Verteidigungsminister zum beliebtesten Politiker der Republik wurde, zeigt, dass ein Bedürfnis nach einer klaren Ansage bestand. Aber es gibt regionale Unterschiede: Im Osten bestehen viele auf einem fortgesetzten Konsum der Friedensdividende und wählen russlandfreundliche Parteien wie die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
Immerhin scheint Friedrich Merz, der wahrscheinliche nächste Kanzler, eine seiner drängendsten Aufgaben darin zu sehen, Deutschlands Anstrengungen in der Verteidigung hochzufahren.
Politiker stehen allerdings unter dem Druck der Umfragen. Vor der Wahl wirkte Merz plötzlich wie weichgespült; wahrscheinlich haben ihm seine Wahlkampfstrategen gesagt, er solle sich lieber nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Nun muss sich zeigen, ob er bereit ist, die Schuldenbremse zu lockern, um aufrüsten zu können. Auch hier scheint er zu zögern. Zögerlichkeit ist zu einem Hauptelement der politischen Kultur Deutschlands geworden. Das ist in Zeiten, da es schnell gehen muss, ein Problem.
Kann Putin mit dem Ergebnis der Bundestagswahl zufrieden sein? Das BSW ist zwar gescheitert, doch AfD und Linke haben gut abgeschnitten.
Vielleicht hat sich Putin über die deutsche Fünf-Prozent-Hürde, die das BSW draussen gehalten hat, geärgert, aber er kann auch so zufrieden sein. Die Frage, ob sich Deutschland eher an den Osten oder an den Westen anlehnen solle, stand seit dem Aufstieg Preussens und den antinapoleonischen Befreiungskriegen auf der Tagesordnung; sie bestimmte das ganze 19. Jahrhundert und auch die Weimarer Republik, wo Gustav Stresemann, der für eine Westbindung eintrat, gegen die Reichswehr stand, die sich nach Osten orientierte. Dieses Problem liegt auch heute wieder auf dem Tisch, mit Alice Weidel als Befürworterin einer Ostbindung.
Vor zwei Jahren, als wir schon einmal miteinander redeten, sprach ich das Problem eines Deutschlands an, das im Verhältnis zu seinen Nachbarn zu gross ist. Auf meine Frage, ob die Lösung des Problems, nämlich die Einbindung in europäische Strukturen, auf Dauer funktionieren könne, sagten Sie, nur solange die Amerikaner in Europa präsent seien, denn damit könnten die Deutschen signalisieren, in Abhängigkeit von den USA zu handeln. Nun scheint dieses Modell am Ende zu sein. Was heisst das für Deutschlands Rolle in Europa?
Bisher lösten die Europäer das Problem ihrer internen Rivalität durch Outsourcing: Der Oberkommandierende der europäischen Nato-Streitkräfte war immer ein Amerikaner. Nun werden sie sich entweder zerstreiten oder einen Modus Vivendi finden, vielleicht in Form einer halbjährlichen oder jährlichen Rotation. Das wäre ein ungeheurer Schritt auf dem Weg, die EU oder den europäischen Teil der Nato in einen handlungsfähigen Akteur zu verwandeln. Ich glaube nicht, dass Deutschland hierbei das grosse Problem wäre: Eine Bundesregierung wird sicher nicht vorpreschen und sagen, Deutschland müsse, weil es das höchste Bruttoinlandprodukt (BIP) und die grösste Bevölkerung habe, den Oberkommandieren ständig oder häufiger stellen.
Sie sprechen sich für eine Art Kerneuropa in der Verteidigungspolitik aus. Wie sollte dieses aussehen?
Ich würde vorschlagen, dass sich fünf Mächte zusammentun: Paris, Berlin, Warschau, Rom und nach Möglichkeit London. Sie würden dann Fragen der Aussen- und Sicherheitspolitik an sich ziehen. Wer von den anderen unter dem Mehrheitsprinzip mitmachen will, darf mitmachen, und wer nicht will, hat auch nichts zu bestellen. Auch einen Geburtsfehler der EU müsste man dabei korrigieren: Dass man zwar austreten, aber keinen hinauswerfen kann.
Wie realistisch ist das Entstehen einer solchen Verteidigungsgemeinschaft?
Es wäre zumindest relativ leicht zu bewerkstelligen: Man müsste dafür nicht einmal europäische Verträge ändern. Schon jetzt haben wir die EU, den Euroraum und den Schengenraum. Diese Räume sind alle nicht kongruent. Also könnten auch fünf Staaten eine Verteidigungsgemeinschaft als besonderen Teil der EU gründen.
Sie fordern seit Jahren ein europäisches Atomwaffenarsenal …
… ich würde von einer europäischen nuklearen Abschreckungskomponente reden, die allerdings nur glaubwürdig ist, wenn es einen Oberkommandierenden gibt. Es geht nicht, dass man 27 Staats- und Regierungschefs zusammenrufen muss und einer wie Viktor Orbán das Ganze dann aufhält. Das ist eher Kasperletheater.
Was würde das Entstehen einer europäischen Nuklearmacht für die Schweiz bedeuten? Bislang lebte auch sie unter dem Schutzschirm Amerikas. Würden die Europäer eher Gegenleistungen verlangen?
Die Schweiz müsste wohl damit rechnen, dass Erwartungen aus Europa an sie herangetragen würden. Dabei dürfte es auch um die Interoperabilität der Streitkräfte gehen. Das ist erst einmal eine technische Frage, dann aber auch eine der Rekrutierung. Mit Berufsarmeen, wie wir sie in den europäischen Nachbarländern der Schweiz haben, ist das Schweizer Milizsystem nicht interoperabel. Zurzeit gibt die Schweiz nicht einmal ein Prozent ihres BIP für die Verteidigung aus. Auch da wird es europäischen Druck geben, nehme ich an. Aber keinen im Stile Trumps.