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Gastkolumne

Geht es um die Wurst?

Ein Vermittlungsversuch im jährlichen Wettstreit zwischen Optimisten und Pessimisten.
Wer mit einer Wurst nicht glücklich wird, dem helfen auch viele Würste nicht.
Bild: Walter Bieri / KEYSTONE

In brenzligen Zeiten gibt es die «Pflicht zur Zuversicht». Stammt von Immanuel Kant. Und trifft wohl zu – weil es keine respektable Alternative gibt. Dabei deckt sich Zuversicht nicht mit Optimismus. Optimisten glauben, die Dinge würden sich schon irgendwie zum Guten wenden. So gutgläubig macht Zuversicht nicht. Sie ermutigt uns nur, so zu handeln, dass das Bessere eine Chance erhält.

Wie stets wetteiferten Optimisten und Pessimisten zum Jahreswechsel um die Deutungshoheit. Rosasicht versus Schwarzsehen. Beide Seiten haben allerlei vorzubringen. Pessimisten den Rattenschwanz akuter Krisen (Katastrophen, Kriege, Klimakrise, Polarisierung der Gesellschaft, demografische Pyramide). Optimisten kontern mit langfristigen Entwicklungen: Weltweit sterben immer weniger Kinder (1900: 40 Prozent, heute 3 Prozent), extreme Armut schwindet (1990: 30 Prozent, heute: 9 Prozent), die Lebenserwartung steigt (in Afrika seit 1970 gar um zwanzig Jahre), mehr Menschen können lesen und schreiben (1900: 20 Prozent, heute: 90 Prozent), Frauen nehmen sich ihre Rechte …

Alles eine Frage des Blickwinkels? Aktuell tauchen nur Krisen auf – langfristig steigt der Lebensstandard. Seit 25 Jahren könnte täglich gemeldet werden: «Gestern starben erneut 120'000 Menschen weniger an Hunger.» Und dies, nachdem über Jahrhunderte fast alle am selben Ort geboren wurden: in der Armut. Wer nicht gerade Kaiser, Sultan oder Papst war, lebte in Hütten und Verschlägen, also im Dreck, dort starb er auch, meist ziemlich früh. Und wie leben wir heute? Vergleichsweise feudal, die meisten jedenfalls.

Sind wir auch so drauf? Innerlich? Reicher und sicherer als wir lebten Menschen nie – doch seelisch sind wir angeschlagen, jeder Zweite fühlt sich «erschöpft», ist «frustriert», rasch «empört»; nie gab es so viele Depressive. Warum? Eben darum? Weil es so ein Krampf ist, den Wohlstand zu sichern? Weil mit dem Fortschritt unsere Angst vor Verlusten wächst? Weil seine Kollateralschäden uns dauernd Schlamassel bescheren, die wir nur aufwendig in den Griff kriegen?

Oder wird griesgrämig, wer so vieles hat – und dann ernüchtert feststellt: Das bringt es ja gar nicht. Und unterwegs vergessen hat, worauf es stattdessen ankäme. Dazu meine Urerfahrung: Als Bub hatte ich nie eine ganze Wurst auf dem Teller – klar, was ich daraufhin begehrte: eine ganze Wurst, einen Teller voller Würste! Irgendwann konnte ich mir jede Wurst leisten, und gleichzeitig war klar: An der Wurst hängt es nicht. Wer mit einer Wurst nicht froh wird, dem helfen keine weiteren Würste (Avocados, Sushi, E-Bikes, Reisen, Autos).

Eigentlich klar. Nur in der Praxis, da denken wir halt doch, wir wären selig, hätten wir bloss noch diese sündenteure Stereoanlage, oder eine Skulptur von Franz West, wenigstens mehr Erfolg. Nichts gegen all das. Blöd wäre nur, mein Lebensgefühl in diese Dinge auszulagern. Ich verlöre ja meine Seele an sie. Und die verlorene Seele, das ist das happigste Risiko im Wohlstand. Mit ihr ist die Freude futsch, der Antrieb, die Zuversicht.

Also auf Wohlstand verzichten? Besser: ihn beseelen. Wie das geht?

Zu meinen Ritualen zum Jahreswechsel gehört das «Weltfestival des Zirkus von morgen», da zeigen junge preisgekrönte Artisten aus aller Welt, was sie draufhaben. Akrobatisch weltmeisterlich, technisch einsame Spitze. Doch sie haben kapiert: Ein immer höherer Schwierigkeitsgrad bringt es nicht, noch ein sechster Salto ist super, aber die bisherigen fünf reichen vollkommen – sofern sie verbunden sind im Zauber einer Dramaturgie, in der Poesie einer Erzählung. Technisch mag noch so unerreicht sein, was ein Akrobatenpaar vorzeigt; unsere Begeisterung gewinnt es durch den Charme seiner Beziehung, durch den Humor, die Wärme, die Seele in der Story. Das weiss es. Seine Spitzenleistungen produziert es wie nebenher.

Gefällt mir. Nichts gegen Fortschritt. Mehr Leistung, mehr Wurst, mehr Reisen. Sofern ich sie wie nebenher behandle. Weil nur die Beziehung zählt. Die innere Erzählung. «Wer ohne innere Bilder lebt, wird gar nichts sehen» (Antonio Tapiès). Wer zu Hause nicht lustig wird, wird auf keiner Weltreise seine Freude finden.

Gut möglich, dass manche Junge das leichter kapieren. Sie hatten schon immer reichlich Wurst – Avocado, Klamotten, Stadtflüge …

Ludwig Hasler ist Philosoph, Publizist und Buchautor.