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Krieg in Nahost

«Es bleibt als Lösung nur ein Bundesstaat, in dem Israeli und Palästinenser gleiche Rechte haben»

Micheline Calmy-Rey lancierte 2003 die Genfer Initiative für Frieden in Nahost. 20 Jahre später blickt die frühere Aussenministerin ernüchtert zurück. Die Hoffnung aber gibt sie nicht auf.
Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey 2019 an einem Podiumsgespräch im KKL in Luzern.
Bild: Bild: Patrick Hürlimann

«Die Genfer Initiative ist kein Misserfolg. Alle beziehen sich heute auf sie. Sie war eine sehr gute Vorlage, sie zeichnete den einzig gangbaren Weg zu einer Zweistaatenlösung, dazu, wie beide Völker in je einem eigenen Staat friedlich koexistieren können. Aber die verschiedenen Kräfte wussten nichts aus der Initiative zu machen. Oder sie wollten nichts daraus machen.

Als die Schweiz letztes Jahr ankündigte, sie werde sich per 2023 aus der Finanzierung der Genfer Initiative zurückziehen, war für mich klar, dass sie sich damit auch von der Zweistaatenlösung verabschiedet. Denn diese Initiative war der einzige realistische Weg zur Zweistaatenlösung. Aber kommuniziert wurde vom Bundesrat das Gegenteil: Die Schweiz halte an der Zweistaatenlösung fest.

Ich habe damals unserem Aussenminister gesagt, dass die Schweiz sich nun von der Zweistaatenlösung verabschiede. Er meinte aber, nein, das sei nicht so. Und noch heute spricht die Schweiz, sprechen alle von der Zweistaatenlösung als Ziel.

Die Zweistaatenlösung ist gestorben, man liess sie zugrunde gehen. Ich teile heute die Einschätzung, die kritische Israeli vertreten, dass auch ihre jeweiligen Regierungen diese Lösung nie wirklich wollten. Dass sie auch dem Westen als Vorwand diente, um nichts machen zu müssen, um am Status quo festzuhalten. Der Hinweis auf die Zweistaatenlösung war bequem. Sie war eine Sprachregelung, die allen ins Konzept passte.

Aber ein Problem löste man damit nicht, im Gegenteil.

Die Terrorattacken der Hamas auf Israel haben uns die ungelöste Palästinafrage in schrecklicher Weise wieder vor Augen geführt. Die Hamas wollte damit unter anderem die Annäherung von Israel und Saudiarabien verhindern, bei der die Palästinafrage eine marginale Rolle gespielt hatte. Diese zynische Rechnung der Hamas ging auf: Saudiarabien sagt jetzt, die Palästinenserfrage müsse einbezogen werden.

Heute gibt es nur noch die Einstaatenlösung. Faktisch ist sie ja bereits Realität: 90 Prozent des Territoriums zwischen Mittelmeer und Jordan werden heute von Israel kontrolliert. In meinen Augen bleibt als Lösung nur ein einziger Staat, ein Bundesstaat, in dem Israeli und Palästinenser gleiche Rechte haben.

Eine Illusion? Wir sind weit weg davon entfernt, ich weiss. Aber ich bin und bleibe Optimistin. Die Zeit der Diplomatie wird kommen, und es muss eine Lösung geben.

Denn was jetzt passiert, ist schrecklich, gerade für Israel. Es erinnert an die Schrecken der Vergangenheit. Israel ist für viele Jüdinnen und Juden ein Refugium. Ich habe eine Freundin, die lebt mit einem gepackten Koffer. Sie sagt, wenn sie hier nicht mehr in Sicherheit leben könne, gehe sie nach Israel. Und nun das.

Ob die Schweiz die Hamas verbieten soll? Das muss der Bundesrat entscheiden, er lässt jetzt die rechtlichen Grundlagen für ein Verbot ausarbeiten. Im Prinzip stützen wir uns hier auf die UNO. Ob und wie ein Verbot unsere Vermittlungsbemühungen erschweren würde, kann ich nicht sagen. Aber was ich sagen kann: Wir hatten die kurdische PKK oder die kolumbianischen FARC-Rebellen nie als Terrororganisation eingestuft. Das erlaubte uns etwa, 2008 die Freilassung der entführten kolumbianischen Politikerin Ingrid Betancourt zu vermitteln.»