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Deutschland

Erdogans langer Arm reicht bis Deutschland - und lernt viele Deutschtürken das Fürchten

Drei Millionen Menschen zählent die türkische Gemeinde in Deutschland. Erdogans Rache nach dem Putsch zerreist sie fast.

Im Café Liman beim Kottbusser Tor im Berliner Bezirk Kreuzberg vertreiben sich Orkans Stammgäste die Zeit mit Brettspielen. «Alles Quatsch, es gibt keine Spannungen zwischen den hier lebenden Türken», sagt Orkan, ein freundlicher und äusserst gesprächsbereiter Gastgeber. «Fethullah Gülen und mit ihm die Amerikaner stehen hinter dem Putschversuch, das türkische Volk hat sich dagegen erfolgreich gewehrt. Davon aber lese ich in deutschen Medien nichts», holt er zu einer minutenlangen Kritik am Westen und den deutschen Medien aus. Seit über 40 Jahren lebt Orkan in Deutschland, doch mit welcher Nation er sich identifiziert, daran lässt er keine Zweifel: mit der Türkei.

Doch Orkans Einschätzung teilen längst nicht alle Türken in Deutschland. Die Regierung in Berlin beobachtet mit Sorge, wie sich das Verhältnis zwischen Anhängern und Gegnern von Präsident Recep Tayyip Erdogan verschlechtert. Und auch die türkische Gemeinde in Deutschland ist in Aufruhr über die aufgeladene Stimmung. In Deutschland leben rund drei Millionen Türken.

Die Gülen-Anhänger berichten von Hass-Mails und Drohanrufen, in mehreren Städten gab es Steinwürfe gegen Gebäude von Gülen-Einrichtungen. Ein türkischer Alewit, der anonym bleiben will, sagt gegenüber der «Nordwestschweiz»: «Es geht nicht mehr lange gut. Eines Tages schlagen sich Erdogan-Anhänger und Erdogan-Gegner gegenseitig die Köpfe ein.»

«Keinen gelebten Pluralismus»

Die kurdische Alevitin Cilem Ruppe, Betreiberin einer Espressobar in Berlin-Mitte, sagt: «Es gibt in der Türkei seit Jahrzehnten keinen gelebten Pluralismus. Entweder man ist für etwas, oder man wird zum Gegner.» Als Kurdin werde sie in Berlin von manchen Türken angefeindet; es gibt Bezirke, die die 37-Jährige meidet.

«Viele hier lebenden Türken konsumieren ausschliesslich türkische Medien», sagt sie. Diese Massenmedien seien oft rassistisch und antisemitisch, Erdogan werde zur Führerfigur aufgebauscht. Die Regierung Erdogan rufe die Staatsbürger zum Denunziantentum auf. «Es gibt Aufrufe per Massen-SMS, Staatsfeinde zu melden», erzählt Cilem Ruppe. Solche Zustände will Aussenminister Frank-Walter Steinmeier nicht tolerieren: «Innenpolitische Spannungen aus der Türkei zu uns nach Deutschland zu tragen und Menschen mit anderen politischen Überzeugungen einzuschüchtern, das geht nicht, und das werden wir auch nicht zulassen», sagte der SPD-Minister kürzlich der «Süddeutschen Zeitung.»

Der Einfluss des türkischen Staates auf Hunderttausende von Türken in Deutschland ist gross. Auch auf junge Menschen der zweiten und dritten Generation, die in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. Vor einer Woche demonstrierten in Köln Zehntausende gegen den Putsch. Es war eine riesige Manifestation für Erdogan.

Selbst Familien sind gespalten

Gökay Sofuoglu, Chef der Türkischen Gemeinde in Deutschland, ist überzeugt, dass eine verfehlte Integrationspolitik mitverantwortlich dafür ist, dass viele seiner Landsleute auf der Seite Erdogans stehen. «Wenn Türken, die in Deutschland sozialisiert worden sind, die Verhältnisse in der Türkei als demokratisch betrachten, muss sich Deutschland ernsthafte Versäumnisse vorwerfen lassen.» Die Türken in Deutschland identifizierten sich zu einem grossen Teil nicht mit der deutschen Gesellschaft und der deutschen Politik.

Erdogan sei in der Lage, diesen Menschen auf eine sehr emotionale Art eine türkische Identität zu verleihen. «Menschen, die sich von der Gesellschaft nicht aufgenommen fühlen, sind für radikale Leitfiguren wie Präsident Erdogan sehr anfällig.» Sofuoglu spricht von Spannungen unter den in Deutschland lebenden Türken: «Ehen brechen auseinander, in Familien gibt es Streit. Die Türkei hat in ihrer Geschichte viele Spaltungen erlebt, aber noch nie in dieser Qualität wie jetzt.» Er rät der EU, die Türkei nicht verloren zu geben. «Europa muss begreifen, dass die Türkei nicht nur aus Erdogan und seinen Anhängern besteht. Es gibt eine starke Opposition.» Europa solle dieser Opposition mehr Aufmerksamkeit schenken.