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Türkei

Erdogan nimmt das Militär an die Kandare

Um die Putschgefahr zu bannen, besetzt der türkische Präsident Erdogan hohe Offiziersstellen mit Islamisten.

Jedes Jahr Anfang August berät in Ankara der Oberste Militärrat (YAS) über Pensionierungen und Beförderungen im Offizierskorps. So auch diese Woche. Auf den ersten Blick ein normaler Vorgang. Aber nichts ist Routine bei den türkischen Streitkräften ein Jahr nach dem Putschversuch. Beriet der YAS früher drei bis vier Tage lang über die Beförderungen, dauerte die Sitzung diesmal nur vier Stunden. Sie fand auch nicht mehr im Gebäude des Generalstabs statt, sondern im Amtssitz des Ministerpräsidenten.

An den Beratungen nehmen unter dem Vorsitz des Regierungschefs jetzt auch die fünf Vizepremiers sowie die Minister für Verteidigung, Inneres, Justiz und Auswärtiges teil. Damit sind die Zivilisten im YAS nun in der Überzahl. Die Regierung nimmt also das Militär an die Kandare. Generalstabschef Hulusi Akar bleibt zwar bis 2019 im Amt, aber die Kommandanten des Heeres, der Luftstreitkräfte und der Marine wurden abgesetzt.

Fürchtet Erdogan die Armee?

Schon am Tag nach dem Putsch hatte Erdogan den Umsturzversuch als «Gottesgeschenk» bezeichnet, da er ihm die Gelegenheit gebe, die Streitkräfte «vollständig zu reinigen». Aber hat Erdogan die Armee wirklich im Griff? Im Juni erschienen in türkischen Medien Fotos von einer Ehrenkompanie, die vor Erdogan salutiert. Die Pistolenhalfter der Soldaten waren leer. Im Juli wurde Innenminister Süleyman Soylu abgebildet, als er eine Spezialtruppe der Polizei inspizierte. Die Beamten trugen automatische Gewehre, allerdings ohne Munition, wie Fachleute auf den Fotos zu erkennen glaubten. Ist die Angst so gross, dass Erdogan und andere Regierungspolitiker Soldaten und Polizei entwaffnen lassen, wenn sie ihnen zu nahe kommen? Das Grossreinemachen bei der Armee und den Sicherheitskräften scheint jedenfalls nicht beendet zu sein. Mitte Juli liess Erdogan per Dekret weitere 7395 Staatsdiener feuern, darunter 2303 Polizisten und 546 Soldaten.

Dabei schien es, als habe Erdogan das Militär gezähmt. Die Streitkräfte spielten in der modernen Türkei stets eine zentrale Rolle. Die Generäle galten als die eigentlichen Herren des Landes. Drei Mal putschten sie unter Berufung auf ihre in der Verfassung festgeschriebene Rolle als Wächter der weltlichen Staatsordnung. Nach dem Wahlsieg seiner islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei 2002 drängte Erdogan die Macht der Militärs Schritt für Schritt zurück, nicht zuletzt unter Berufung auf die Reformvorgaben der Europäischen Union.

Die Nato ist besorgt

Doch voll unter Kontrolle hatte er die Armee offenbar nicht. Ob der Putschversuch vom Juli 2016 wirklich auf die Initiative des Erdogan-Erzfeindes Gülen zurückging, wie die Regierung behauptet, oder ob Gülen damit nichts zu tun hatte, wie er selbst sagt: Der versuchte Umsturz zeigte jedenfalls, dass Teile des Offizierskorps Erdogan die Gefolgschaft verweigern. Umso unnachsichtiger räumt der Staatschef jetzt auf. Ehemalige Offiziere sagen, Erdogan treibe gezielt eine Islamisierung der Streitkräfte voran. Gezielt würden die Posten geschasster Offiziere mit treuen Gefolgsleuten Erdogans besetzt, sagen Insider. Im Magazin «Vocal Europe» warnte ein namentlich nicht genannter Offizier, der nach dem Putschversuch aus Angst vor Verfolgung im Ausland Asyl suchte, die türkische Armee werde in wenigen Jahren «voller Extremisten und Salafisten» sein.

Trifft das zu, könnte eine solche Entwicklung die Nato nicht kalt lassen. Die Türkei stellt nach den USA die zweitgrösste Armee im Bündnis. Ohnehin gibt es in der Allianz nach den Säuberungen Zweifel an der Einsatzbereitschaft der türkischen Streitkräfte. Deren Führungsstrukturen und operationelle Fähigkeiten seien «geschwächt», sagen Nato-Diplomaten.