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Analyse

Einen Zwerg zum Riesen machen – (wie) sollen Medien über Rechtsextreme wie Martin Sellner berichten?

Der abgebrochene Vortrag eines österreichischen Politaktivisten im Kanton Aargau sorgt weltweit für Schlagzeilen. Der Umgang damit stellt auch Medien vor grosse Herausforderungen.
Aus dem Aargau weggewiesen: Martin Sellner bei einer Demonstration in Wien im April 2020.
Bild: BidL: Christian Bruna/EPA

Martin Sellner ist ein Riese. Verfolgt man die Posts und Videobeiträge des rechtsextremen Österreichers in den sozialen Medien, so gewinnt man den Eindruck, dass hier einer der wichtigsten politischen Akteure Europas spricht. Sellner gibt sich als visionärer Denker und Autor, als unermüdlicher Aktivist, als Opfer eines totalitären Systems, das ihn und seine Meinung mundtot machen will.

Vergangenes Wochenende lieferte ihm die Aargauer Kantonspolizei einen Anlass dafür. Sie brach einen Vortrag Sellners ab, zu dem die identitäre Gruppe «Junge Tat» eingeladen hatte . Die Polizei setzte die von der Saalvermieterin verlangte Auflösung der Veranstaltung durch und sie verwies ihn «zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit» des Kantonsgebiets.

Sellner, führender Kopf der identitären Bewegung Europas, wusste die Polizeiaktion propagandistisch meisterlich auszunutzen. Noch während die Beamten den Saal betraten, sendete er via Telegram ein Live-Video, das unterdessen über 20’000 Mal angeschaut worden ist. Seither veröffentlichten Sellner und die «Junge Tat» in den sozialen Medien über ein weiteres Dutzend Videos und Beiträge zum abgebrochenen Vortrag.

Wie sollen die Medien mit einer Figur wie Sellner und einem Ereignis wie dem abgebrochenen Vortrag umgehen?

Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Einerseits: Ein polizeilich durchgesetzter Abbruch einer politischen Veranstaltung hat Seltenheitswert - und ist aufgrund des Spannungsfelds zur Meinungsäusserungsfreiheit grundsätzlich von Relevanz .

Andererseits: Martin Sellner und identitäre Gruppen wie die «Junge Tat» suchen solche Konflikte gezielt und inszenieren sie nach allen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie.

Das fordert auch die Polizei heraus. Sie muss sich nach dem Gesetz und der Sicherheitslage richten und darf sich ihre Handlungsfreiheit nicht von möglichen PR-Aktionen der Betroffenen einschränken lassen. Doch klar ist auch: Der Polizeieinsatz war entscheidend dafür, dass Sellner seit dem Wochenende soviel Aufmerksamkeit erhalten und sich selbst Tesla-Gründer Elon Musk dazu geäussert hat. Sellner verbuchte dies als einen «metapolitischen Erfolg».

Mit Medienberichterstattung über den Vorfall– egal wie differenziert sie ausfällt – spielt man immer auch das Spiel der Rechtsextremen mit. Das ist problematisch. Denn Martin Sellner ist eigentlich ein Zwerg. Die Mitgliederzahlen von identitären Gruppen sind bescheiden. Bei einer von Sellner organisierten, während Monaten in der ganzen identitären Szene Europas gross beworbenen «Demo für Remigration» in Wien tauchten im letzten Sommer gerade mal 500 Leute auf.

Trotzdem ist Sellner keine irrelevante Randfigur. Ihm gelingt es zunehmend, den rechtsextremen Kampfbegriff der «Remigration» in die politische Diskussion einzubringen. Die rechtspopulistischen Parteien AfD in Deutschland und FPÖ in Österreich, beide im Umfragehoch, verwenden längst den Begriff «Remigration». Vereinzelt machen dies auch Jung-SVP-Mitglieder.

Es ist Sellners Strategie, «Remigration» gegen aussen primär als Forderung nach der massenhaften Ausschaffung von kriminellen Ausländerinnen und Ausländern sowie abgewiesenen Asylbewerbern darzustellen. Das sind Forderungen, die politisch anschlussfähig sind.

Doch das Fernziel von Sellner und den Identitären ist weit umfassender. Sie, die anstelle des Begriffs Rasse bewusst Worte wie Kultur oder Identität verwenden, wollen mithilfe der «Remigrationspolitik» Personen nicht-europäischer Abstammung aus Europa wegdrängen. Mit sprachlichen Codes wie «fehlender Assimilation» oder «überbordendem Multikulturalismus» vermeiden sie es tunlichst über das zu reden, um was es ihnen eigentlich geht: die Hautfarbe.

Doch manchmal fällt die Maske. So sagte Sellner im Oktober in einem Video, ihn störten die vielen «fremden Gesichter» in Europas Städten. Wer sich an Leuten stört, die einem nichts zuleide getan haben, bloss weil sie anders aussehen, ist weder Riese noch Zwerg. Sondern ein Rassist.