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Zuwanderung

Die Zuwanderung bricht ein

Der Höhepunkt der Zuwanderung ist vorbei. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert sich dennoch – vor allem in Bezug auf die Löhne.

Irina Kisseloff

Wir werden uns nicht schon morgen auf den Füssen herumstehen. Die Überbevölkerung der Schweiz wird noch nicht Realität. Denn: Die Zuwanderung geht weiter zurück. Von Januar bis Juli sind noch 58 500 Personen aus der Europäischen Union und anderen Staaten eingewandert. Setzt sich diese Entwicklung fort, werden es Ende Jahr rund 100 000 Personen sein. 2008 waren es noch 161 600. Zwar ist der Rückgang langsamer, als es Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf erwartet hätte, wie sie diese Woche der «NZZ» sagte. Ihr Departement werde deshalb prüfen, ob Steuerungsmechanismen wie die Ventilklausel (siehe Box) doch noch zum Einsatz kommen sollen.

Doch für Yngve Abrahamsen, den Prognoseleiter der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF), ist klar: «Der Boom ist vorbei.» Die KOF prognostiziert für 2009 und 2010 einen massiven Rückgang des Ausländeranteils am Bevölkerungswachstum und dann ein Einpendeln auf deutlich tieferem Niveau (siehe Grafik). «Die Wachstumsraten bei den Ausländern werden nicht so schnell wieder in ähnliche Höhen steigen wie vor der Krise», sagt Abrahamsen. Auch Bernhard Weber, Arbeitsmarktexperte beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), geht mit steigender Arbeitslosigkeit von weniger Zuwanderern aus.

Offene Stellen sind rar

Einer der treibenden Faktoren für die hohe Zuwanderung waren immer mehr Jobs in der Schweiz. Von Anfang 2006 bis Anfang 2008 legte der Index der offenen Stellen um rund 50 Prozent zu. Nun ist das Jobangebot aber deutlich zurückgegangen. Der Index ist gegenüber dem Vorjahr um 36 Prozent eingebrochen; im Baugewerbe, im Maschinenbau und in der Industrie gar um 54 Prozent.

Relativ gesehen ist die Arbeitslosigkeit bei uns mit derzeit 4,1 Prozent jedoch immer noch tief. In der Europäischen Union liegt sie bei knapp 9 Prozent. Wird der Zustrom aus diesem Grund nicht hoch bleiben? Zunächst werde die Zuwanderung wegen des geringeren Stellenangebots in der Schweiz leicht abnehmen, glaubt auch Reiner Eichenberger, Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Freiburg. «Doch dann werden die Raten bald wieder steigen.» Weltweit nehme der Wanderungswille zu. Nicht zu vernachlässigen sei die Eigendynamik der Zuwanderung. «Die Einwanderer bilden Netze und ziehen so Personen aus ihrem Herkunftsland nach.»

Zehnmal mehr Bewerbungen

Diese Entwicklung und die steigende Arbeitslosigkeit erhöhen den Druck auf die Löhne in der Schweiz. Die Position der Arbeitnehmer wird schwächer - auch im nächsten Aufschwung. Wenn die Wirtschaft, wie Experten voraussagen, schon bald wieder wächst, werden nach dem Stellenabbau irgendwann wieder mehr Arbeitskräfte gebraucht. Werden diese dann in der Schweiz rekrutiert oder im Ausland? «Im Ingenieur- oder Gesundheitswesen beispielsweise finden sich nach wie vor zu wenig Personen aus dem Inland. Dort wird man auch künftig im Ausland suchen müssen», sagt José Maria San José, Mediensprecher des Jobvermittlers Adecco.

Auch auf dem allgemeinen Markt könnten im Aufschwung die ausländischen Arbeitskräfte einen Vorteil haben: «Sie sind in Lohngesprächen im Schnitt flexibler als die Schweizer», so San José. Will heissen: Ausländer arbeiten für weniger Geld. Der Druck auf die Löhne wird sich auch deshalb verstärken, weil sich viel mehr Personen um eine offene Stelle bewerben werden. Das ist bei Adecco bereits jetzt spürbar: «Wenn uns vor einem Jahr für eine Stelle in einem Callcenter beispielsweise 15 bis 20 Bewerbungen erreichten, sind es heute bereits 150 bis 200.»