Frau Buri * hat geerbt. Was für viele eine gute Nachricht wäre, liegt ihr schwer auf dem Magen. Nicht, weil sie vom Erbe nur knapp die Hälfte – 25 000 Franken – behalten darf. Sondern weil die monatlichen Zahlungen jetzt eingestellt werden: Buri ist auf einen Schlag vermögend und hat deshalb kein Anrecht auf Sozialhilfe mehr. Dabei wollte sie das Erbe auf ein Sperrkonto einzahlen, um es später für die Ausbildung ihres Sohnes zu verwenden. Doch das darf sie nicht. Stattdessen muss Buri das Geld, das sie über Jahre vom Staat erhalten hat, zurückzahlen.
Buri weiss bereits jetzt, dass sie sich trotz Erbe und ihren Reinigungsjobs finanziell nicht dauerhaft über Wasser halten kann. Sich in einem Jahr abermals um Sozialhilfe zu bewerben, ist ihr jedoch ein Graus. Auf unzähligen Fragebögen und Formularen muss die Bewerberin alles offenlegen. Neben Einkommen und Vermögensverhältnissen sind auch persönliche Beziehungen relevant: Kann eine Person von ihrer Familie unterstützt werden? Erhält der Partner eine Rente? Liegt auf einem versteckten Konto Geld?
Trotzdem hat Buri Angst, dass ein neuer Antrag abgewiesen werden könnte – was in den meisten Fällen passiert: Im ersten Halbjahr 2014 hat das Berner Sozialamt 60 Prozent der Gesuche abgelehnt. Bloss 40 Prozent (506 Fälle) wurden angenommen. Bei jedem wird der Bedarf einzeln berechnet und à jour gehalten. Weil Buri Geld verdient, erhält sie entsprechend weniger Sozialhilfe. Die Sozialarbeiterin führt Buch über ihr Budget und hat dieses bisher monatlich ausgelöst. Jetzt wird es eingestellt – wie bei anderen 478 von insgesamt 3557 Berner Fällen in den ersten sechs Monaten des Jahres auch.
Gleichzeitig nimmt die Zahl der Langzeitbezüger zu. Und dies, obwohl rund ein Drittel der Sozialhilfebezüger erwerbstätig ist – Working Poors, bei denen das Einkommen nicht reicht, um der Armut zu entfliehen. Betroffen sind besonders schlecht Qualifizierte, darunter viele Ausländer. Bei tief Qualifizierten lag die Erwerbslosenquote 2012 mit 11,1 Prozent in Bern deutlich höher als im Durchschnitt (2,9 Prozent).
Konzentration auf junge Bezüger
Frau Gignon* ist die zweite Klientin, die an diesem Septembermorgen das Berner Sozialamt betritt. Sie bringt eine bewegte Geschichte mit. Nachdem sie vor mehr als 20 Jahren ihre unbefriedigende Stelle im Waadtland aufgegeben hatte, zog sie in die weite Welt. Irgendwann ging ihr das Geld aus und sie landete auf der Strasse. Von dort kam sie nie wieder richtig weg. Vor drei Jahren kehrte sie in die Schweiz zurück, wo ihr die soziale Einrichtung Wohnenbern ein Dach über dem Kopf gab. Bemühungen, die bald 60-Jährige in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sind nicht geplant. Neben ihrem Alter ist auch ihre mangelnde Qualifikation ein Hindernis.
Jüngere werden bevorzugt
Stattdessen konzentriert das Sozialamt Bern seine Ressourcen auf junge Sozialhilfebezüger, um langfristige Abhängigkeit zu vermeiden. Das Kompetenzzentrum Arbeit (KA) bietet Ausbildung, Hilfe bei der Stellensuche und auch interne Arbeitsplätze an. Wer als arbeitsfähig beurteilt wird, erhält eine Aufgabe. Gut 20 Personen betreiben das hauseigene Restaurant unter der Leitung von Karin Galli. Zusammen mit ihren Mitarbeitern lehrt sie die Sozialhilfeempfänger kochen, putzen und wie man sich gegenüber einem Arbeitgeber verhält. Für sie ist ihr Betrieb kein Beschäftigungsprogramm. «Wir bringen Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zurück. Und wir geben Personen in schwierigen Verhältnissen Stabilität.» Galli ist überzeugt: Fehlen Menschen solche Strukturen, fallen sie in ein tiefes Loch. Was den Staat wiederum stärker belasten würde. Jetzt erhalten sie Sozialhilfe plus einen monatlichen Motivationszuschlag von 100 Franken.
Sozialhilfe statt IV-Rente
Nicht alle können vom Angebot des KA profitieren. Herr Trauber* etwa leidet an physischen und psychischen Gebrechen. Nach der fünften Operation an der unteren Wirbelsäule wartet der junge Mann auf den Bescheid der Invalidenversicherung. Arbeiten kann er nicht, also bezieht er Sozialhilfe, bis er weiss, ob er eine IV-Rente erhält. Sollten die IV-Abklärungen ins Leere laufen, bleibt er wohl bei der Sozialhilfe hängen. Arbeitsintegration ist für ihn noch kein Thema.
Missbräuche sind Ausnahmen
Natürlich ist auch das Berner Sozialamt nicht gefeit vor Missbräuchen. 101 Fälle konnten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres aufgedeckt werden, wobei es zu 64 Strafanzeigen kam, weil die Sozialhilfe unter Angabe falscher Tatsachen erschlichen worden war. In anderen Fällen wurde das Geld zweckentfremdet, oder es konnte nachgewiesen werden, dass trotz Arbeitsfähigkeit kein Versuch unternommen wurde, eine Stelle zu finden.
Missbräuche bleiben aber die Ausnahme. Die meisten Sozialhilfeempfänger würden gerne arbeiten. Im ersten Halbjahr 2014 konnten in Bern 139 Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt zurückgeführt werden. An diesem Septembertag haben drei dazu den ersten Schritt gemacht und mithilfe des KA eine Teilzeitstelle bei einem privaten Arbeitgeber gefunden.
Die Namen der Sozialhilfebezüger wurden geändert.