Christian Nünlist
Aus amerikanischer Perspektive ist klar: Der Mauerfall und das Ende des Kalten Krieges in Europa war vor allem das grosse Verdienst von Ronald Reagan, der die Sowjetunion in den Ruin gerüstet hat, und George H.W. Bush, der 1989 klug abgewartet hat und in kein Triumphgeheul ausgebrochen ist. Dann, aber mit grossem Abstand, spielte in der US-Narrative auch ein gewisser Mihail Gorbatschow eine Rolle. Für europäische Politiker ist aber in den Geschichtsbüchern meist kein Platz mehr.
Das ist bedauerlich, denn es verzerrt die spannende internationale Geschichte vom Ende des Kalten Krieges. Europäische Historiker wie der Brite Piers Ludlow oder der Franzose Frédéric Bozo haben aber in ihren klugen Studien herausgearbeitet, wie wichtig die Rolle Europas im Wendejahr 1989/90 war, gerade auch vom charismatischen EG-Kommissionspräsident Jacques Delors. Denn unmittelbar nach dem Mauerfall preschte der deutsche Kanzler Helmut Kohl im Dezember 1989 vor und legte einen ambitionierten 10-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung Deutschlands vor. Damit tauchten in ganz Europa wieder uralte Ängste auf. In West und Ost fürchtete man ein zu starkes wiedervereinigtes Deutschland, die Erinnerungen an zwei Weltkriege wurden wieder wach.
In diesem schwierigen Moment schlug die Stunde Europas und die Stunde Delors. Denn die EU war schon in ihrer ersten Form, der Kohle- und Stahlunion von 1952, auch ein Instrument zur Eindämmung Deutschlands. Und kluge Historiker haben den Kalten Krieg in Europa als "doppelte Eindämmung" bezeichnet, weil es Amerika gelang, neben der Sowjetunion auch Deutschland einzudämmen. 1989/90 war das "goldene Zeitalter" der EU (damals noch EG). Unter dem aktiven Kommissionspräsidenten Delors war das Ziel des europäischen Binnenmarktes erreicht worden, und die EG halfen nach dem Mauerfall auch mit, die Angst vor einem zu mächtigen Deutschland zurückzubinden. Jacques Delors war einer der ersten Politiker, der für die Wiedervereinigung Deutschlands eintrat, sofern sie "innerhalb Europas" stattfinden würde.
Wir erinnern mit einer 15-teiligen Artikelserie an das "andere 9/11" - an den 9.11.1989 und stellen 15 Wegbereiter des Wende- und Wunderjahrs 1989 vor - politische Akteure, die unserer Meinung nach einen zentralen Beitrag geleistet haben, dass der Kalte Krieg nach 45 Jahren zu Ende ging - und zwar auf die Art und Weise zu Ende ging, wie er zu Ende ging, nämlich weitgehend friedlich und ohne Blutvergiessen.