«Kesb tötet!», schreibt einer auf Facebook. In einem anderen Beitrag heisst es: «Das Blut dieser Kinder klebt jetzt an den Händen der Kesb.» Und auf Twitter fordert jemand: «Solch eine Behörde gehört umgehend abgeschafft.»
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) soll den Schutz von Personen sicherstellen, die nicht selbstständig für sich sorgen können. Doch nun muss die Kesb Winterthur-Andelfingen selber von der Polizei Schutz in Anspruch nehmen. Derart massiv sind die Drohungen gegen sie. In der Facebook-Gruppe «Stopp der Kesb Willkür» mit über 2000 Mitgliedern wird die Organisation für den doppelten Kindsmord in Flaach ZH verantwortlich gemacht.
Durch die sozialen Netzwerke fegt ein Shitstorm. So nennt man das, wenn Menschen im Internet ihrer Empörung freien Lauf lassen und sich aus einzelnen, erzürnten Kommentaren ein ganzer Sturm der Entrüstung zusammenballt. Die Analogie zum Wetterphänomen ist nicht zufällig: Ein Shitstorm ist unberechenbar, oft aus einem unbedachten Kommentar entstanden, entwickelt er eine Eigendynamik und peitscht mit gnadenloser Wucht auf die Betroffenen ein.
Das musste kürzlich auch Sarah Palin erfahren: Die US-Politikerin postete zum Jahresbeginn auf Facebook ein Foto ihres Sohnes, der mit seinen Füssen auf den Hund der Familie stieg wie auf einen Schemel. Im Nu warfen Hunderte von Facebook-Fans Palin Tierquälerei vor.
Ähnlich erging es der in Gipf-Oberfrick AG wohnhaften Holländerin Nancy Holten, die sich für ein Verbot von Kuhglocken aussprach und sich unmittelbar in einem Shitstorm wiederfand. Über 4500 Facebook-Nutzer haben sich der Facebook-Gruppe «Nancy Out! Den Schweizern zuliebe» angeschlossen.
Der Mob will nur empören
Shitstorms wehen täglich durchs Netz. Mittlerweile gibt es sogar ein Klassifikationssystem für die Stärke eines Empörungssturms. Mitentwickelt hat es der Schweizer Social-Media-Experte Daniel Graf. «Über der Kesb entlädt sich momentan ein Shitstorm der Kategorie 5», sagt er. Das bedeutet: «Starke emotionale Anschuldigungen. Kanalübergreifende Kettenreaktionen. Artikel in Printmedien.»
In der Tragödie von Flaach ZH sind Kinder und Behörden im Spiel. Kinder sind emotional positiv besetzt und sie gilt es zu schützen. Behörden sind emotional negativ besetzt und haben allgemein ein schlechtes Image. «Weil hier zwei heikle Themen zusammenkommen – die Behörden haben sich anscheinend falsch verhalten und die Kinder nicht geschützt –, ist das der perfekte Nährboden für einen Shitstorm», erklärt Ullrich Dittler, deutscher Professor für Interaktive Medien.
Ein Shitstorm braucht einen Sachverhalt, den wir emotional einfach und schnell bewerten können. Und das trifft bei einem Kindsmord vollständig zu. Der Fall wurde von den Medien aufgegriffen und (grösstenteils) objektiv geschildert. Bei dem darauffolgenden Shitstorm, der jetzt im Netz wütet, geht es laut Dittler um emotionale Bewertung, auf Objektivität wird verzichtet. «Der Mob will nicht verstehen oder begreifen, er will sich nur empören», erklärt der Internetsoziologe.
Für Dittler hat ein Shitstorm nichts Gutes. Der Mob argumentiert nicht rational und bewirkt nichts. Zudem mache ein Shitstorm nicht auf Mängel aufmerksam, sondern käme stets hinterhergelaufen.
Anderer Meinung ist der Shitstorm-Experte Daniel Graf: «Wir müssen die Leute ernst nehmen. Sie sind zwar emotional, trotzdem wollen sie Veränderung.» Doch auch Graf warnt, dass sich eine Dynamik entwickeln kann, in der die «Pöbler» nur noch laut und wütend sind und einen Sündenbock suchen. Wenn es entgleist, kann es gefährlich werden. Die Reputation eines einzelnen oder wie im aktuellen Fall einer Behörde ist in kurzer Zeit zerstört. Und: Die Menschen vergessen nicht.
Die Mobilisierung der Masse, der laute Aufschrei und die kollektive Wut haben sich durch das Internet gewandelt. Dittler geht sogar so weit: «Eine Gesellschaft kann sich heute nicht mehr physisch ohne das Netz bilden.» Das Internet ist das perfekte Empörungs-Medium. Die Zugangsbarriere ist niedriger, wir haben keine Hemmungen und müssen keinen grossen Aufwand betreiben. Trotzdem erreichen wir in sehr kurzer Zeit, ganz einfach, eine extreme Wucht. Brauchte es früher Vorlauf für Demos, hagelt es nun pausenlos spontane Reaktionen der User und Leser. Durch das ständige Onlinesein kommt es zu einem öffentlichen Sofort-Protest.
Unterm Deckmantel «Internet»
Wir müssen nicht mal mehr eine eigene Meinung formulieren, nein, entweder wird nachgeplappert, ein Like für die Aussage «Me too» verpasst oder Retweeted. «Sie machen es nebenbei, als scheinbares gesellschaftliches Engagement, während sie auf Nachrichtenseiten lesen oder online Schuhe kaufen», sagt Dittler. Und er fragt zu Recht: Würden alle diese Kesb-Gegner ihre teils aggressiven, drohenden Worte auch face to face an die Behörde richten?
Graf sieht durchaus auch Positives in einem Shitstorm: Die Masse verursacht Druck auf Akteure oder Politiker. Ein Thema wird auf die Agenda gehievt. In einem zweiten Schritt können dann konstruktive Lösungen erarbeitet werden. Bis es jedoch so weit ist, muss der Shitstorm erst überstanden werden.
Das geht am besten, indem man die Empörungswelle aussitzt. «Erst danach soll man die Ursachen, die zu dem Sturm geführt haben, beseitigen», rät der deutsche Soziologe Sacha Szabo. So verhalte man sich ja auch bei einem richtigen Sturm. «Man bleibt im Haus, schliesst die Läden und rennt nicht wie wild im Freien herum. Denn dort ist die Chance gross, vom Blitz getroffen zu werden.»