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Klimaproteste in Deutschland

«Der Hass zeigt, dass wir einen Nerv treffen»: Wie die Klima-Apokalyptiker der «Letzten Generation» operieren

Sie blockieren Strassen und bringen die Bürger gegen sich auf. Dahinter steckt eine kühl kalkulierte Strategie, wie ein Besuch bei den Aktivisten in Berlin zeigt. Aufmerksamkeit ist alles, Kollateralschäden werden in Kauf genommen.
Am heikelsten ist es, bis die Polizei kommt: Aktivisten der «Letzten Generation» bei einer Strassenblockade am 7. November in Berlin. 
Bild: Filip Singer / EPA

Der Mann auf der Bühne ist ein Routinier. «Die Klimakatastrophe findet jetzt statt», sagt Tim, doch aufgeregt oder panisch wirkt er nicht, eher fokussiert. Die Zahlen und Daten, die er nennt, kennt er längst auswendig. Tim, ein 26-jähriger, blonder Pferdeschwanzträger, hat früher einmal Wirtschaft in St. Gallen studiert, dann war er politischer Berater in Berlin. Mittlerweile, so sagt der Deutsche, sei er Vollzeitaktivist.

Das Interesse war nicht immer so gross: Seinen Vortrag habe er auch schon vor zwei oder drei Zuschauern gehalten. An diesem Abend sind etwa 50 Leute gekommen, sodass sich in dem Hinterzimmer einer Bar im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg kaum noch ein Platz findet.

Tim gehört zur «Letzten Generation», einer Gruppierung, die Strassen blockiert und Lebensmittel auf Kunstwerke wirft, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Die Empörung darüber hat die Aktivisten auf die Frontseiten deutscher Zeitungen gebracht. Letzte Woche starb in Berlin eine Velofahrerin nach einem Unfall. Hätte die «Letzte Generation» nicht die Strasse blockiert, hätte die Frau schneller und besser versorgt werden können, heisst es im Abschlussbericht der Berliner Feuerwehr. Ob sie dann überlebt hätte, kann niemand sagen.

Sie sehen sich in der Tradition Gandhis und Martin Luther Kings

Das Publikum an diesem Abend ist mehrheitlich jung wie der Redner, aber auch einige ältere Leute sind gekommen, weisshaarige Protestveteranen, die wie wohlwollende Grosseltern auf die jungen Aktivisten zu blicken scheinen. Ernst, sehr ernst geht es zu: Von Fluten in Pakistan und im deutschen Ahrtal berichtet Tim – und von der Weltklimakonferenz, die dieser Tage in Ägypten stattfindet und auf der, wie er meint, «viel gequatscht und nichts Handfestes beschlossen» werde.

Glaubt man den Aktivisten, ist die Katastrophe kaum noch abzuwenden: Zwei Grad wärmer soll es bis 2045 werden, wenn jetzt nicht deutlich mehr unternommen werde. «Das ist schon ’ne krasse Sache», meint Tim. Unbewohnbare «Todeszonen» wie in der Sahara, die bisher ein Prozent der Erdoberfläche ausmachten, würden dann 20 Prozent umfassen. Bis zu drei Milliarden Menschen könnten sich auf die Flucht begeben.

Auch im Raum wird es langsam wärmer; eine Dose mit selbstgemachten, veganen Keksen kreist. Tim erklärt das Konzept des friedlichen zivilen Ungehorsams und beruft sich dabei auf historische Vorbilder wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Auch damals, im Amerika der Sechzigerjahre, hätten manche gesagt, die Bürgerrechtler müssten geduldiger sein. «Aber wir haben nicht den Luxus der Zeit.»

Das eigene Risiko zu dosieren, bleibt jedem Teilnehmer selbst überlassen: Ein Aktivist beim Ankleben an eine Berliner Strasse (7. November). 
Bild: Filip Singer / EPA

Wer an diesem Abend gekommen ist, sympathisiert mit der Bewegung, und die Aktivisten machen auch gar kein Geheimnis daraus, dass sie hier sind, um neue Mitstreiter anzuwerben. «Stellt euch schon mal darauf ein, dass ich am Ende fragen werde, ob ihr mitmachen wollt», sagt Tim.

Für viele Bürger sehen die Angehörigen der «Letzten Generation» wie extremistische Apokalyptiker aus, doch wirkt ihre Strategie wie das wohldurchdachte Ergebnis kühler Überlegungen. Nutzen und Risiken scheinen sie sorgfältig gegeneinander abzuwägen: Die Teilnahme an einer Strassenblockade, so erläutert Tim, könne eine Strafe von 30 Tagessätzen à 30 Euro einbringen. Ins Strafregister werde man erst ab 90 Tagessätzen eingetragen. Auch das Alter sei entscheidend: Wer unter 20 ist, kann damit rechnen, nach dem Jugendstrafrecht abgeurteilt zu werden.

Es gibt «Bienen» und «Gärtner», «Jas» und «Jakks»

Das eigene Risiko zu dosieren, bleibt jedem Teilnehmer selbst überlassen. «Ihr müsst euch nicht festkleben, ihr könnt auch filmen», sagt Tim. Nichts sei bei einer Eskalation wertvoller als eine Kamera. Intern unterscheiden die Aktivisten zwischen sogenannten Gärtnern, die für die anderen waschen, einkaufen oder kochen, und sogenannten Bienen, die aktiv an den Blockaden teilnehmen; die «Bienen» wiederum werden eingeteilt in «Jas» und «Jakks», wobei Letzteres für «Ja, aber kein Knast» steht.

«Wir brauchen diese Polarisierung»: Aktivisten der «Letzten Generation» am 9. November auf dem Brandenburger Tor in Berlin. 
Bild: Clemens Bilan / EPA

Tim selbst war laut eigener Aussage an zehn bis 15 Blockaden beteiligt. «Wir brechen das Gesetz mit Namen und Gesicht», sagt er. «Gerichtsverfahren sind wichtig, um Aufmerksamkeit zu schaffen.» Nun hofften sie auf die ersten Freisprüche – von Richtern, die einsähen, dass angesichts einer drohenden Katastrophe gehandelt werden müsse.

Auch Gefängnisstrafen sind Teil des Kalküls. Dass in Bayern, wo strengere Regeln gelten als in Berlin, derzeit ein gutes Dutzend Aktivisten für 30 Tage in Präventivhaft sitzt, dürfte den Aktivisten selbst bei denen Sympathien verschafft haben, die ihre Methoden kritisch sehen.

Der süddeutsche Freistaat beruft sich dabei auf Gesetze, die einst zur Bekämpfung von Terrorismus eingeführt wurden. Auf den sozialen Netzwerken verbreitet die «Letzte Generation» seither unermüdlich Bilder von harmlos wirkenden Schülerinnen oder Studenten, die sich in bayrischen Gefängnissen befinden, ohne dass sie etwas getan hätten.

Sie wollen «den Diskurs mit der Brechstange vorantreiben»

86 Prozent der Deutschen ist die «Letzte Generation» laut einer Umfrage zu radikal. Auf das Verständnis derer, die wegen ihrer Blockaden im Stau stehen, können Tim und seine Kollegen gewiss nicht rechnen. Den Rechtsstaat wissen sie durchaus zu schätzen: Wütende Bürger seien viel gefährlicher als die Polizei, sagt Tim. Am heikelsten sei es, bis die Ordnungshüter einträfen. Protestieren zu können, ohne erschossen zu werden, sei ein Privileg, das man nicht überall auf der Welt geniesse.

Ob die Blockaden nicht arbeiterfeindlich seien, will ein älterer Mann von Tim wissen. Es ist eine der wenigen kritischen Fragen an diesem Abend. «Wenn es eine Autobahn gäbe, auf der nur CEOs und Politiker fahren, würde ich mich dort festkleben», entgegnet der Aktivist. Ob die derzeitigen Protestformen die richtigen und wirksamsten seien, müsse immer wieder neu hinterfragt werden: «Wir haben die Weisheit nicht mit Löffeln gegessen, auch wenn wir manchmal so wirken.»

Derzeit wollten sie aber nichts an den Methoden ändern. «Wir brauchen diese Polarisierung. Wir müssen den Diskurs mit der Brechstange vorantreiben, die Leute sollen, wenn möglich, über kein anderes Thema mehr reden.» So wolle man die erreichen, die wüssten, dass etwas geschehen müsse, aber noch kurz davor stünden, sich zu engagieren. «Konstruktive Tätigkeit ist sinnlos, wenn der Weg in den Abgrund führt.»

Angehörige der «Letzten Generation» erklären, die Bewegung sei weniger basisdemokratisch als andere Klimainitiativen. Man wolle lieber effizient vorgehen, anstatt alles zu zerreden; es herrsche eine funktionale Hierarchie, in der eine kleine Gruppe entscheide. Auch die Kommunikation wirkt professionell. Tim, der Vollzeitaktivist, hat ein Profil auf Linkedin, einem sozialen Netzwerk, auf dem auch Banker oder Unternehmensberater berufliche Kontakte knüpfen.

Der Tod der Velofahrerin löst hier kaum Betroffenheit aus

Auffällig ist, dass niemand hier einen äusserlich sichtbaren Migrationshintergrund hat. Für eine Stadt wie Berlin ist das ungewöhnlich. «Wir sind eine sehr weisse Bewegung», räumt Tim ein. Gewisse Privilegien seien ein Vorteil, doch wünsche er sich «mehr Diversität».

Der Tod der Velofahrerin kommt an diesem Abend auch noch zur Sprache, aber nur kurz. «Der Hass, der danach über uns hereinbrach, zeigt, dass wir einen Nerv treffen», sagt Tim. Aber es sei natürlich schrecklich, fügt er nach einer Pause hinzu. Sonderlich betroffen wirkt er dabei nicht. Wahrscheinlich seien es nicht die Blockierer gewesen, die schuld seien, meint er. «Aber die Aufregung war gut, um Hass zu erzeugen.» Als Tim fragt, wer sich vorstellen könne, die «Letzte Generation» aktiv zu unterstützen, strecken etwa zwei Drittel der Anwesenden auf.