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Datenüberwachung

Der Geheimdienst liest bald auch die Zeitung mit

Geheimdienste wie der NSA erkennen durch normale Internet-Benutzer verdächtige Verhaltensweisen. Dabei werden unvorstellbar grosse Datenmengen analysiert.

Wer diesen Beitrag nur auf Papier liest, ist sicher vor dem Zugriff des US-Geheimdienstes NSA.

Bei der Online-Lektüre sieht es anders aus: Allein mit den Stichworten des folgenden Abschnitts werden Daten automatisch im riesigen Rechenzentrum des NSA im US-Bundesstaat Utah gespeichert. Denn der NSA erhofft sich durch das systematische Sammeln von Daten im Rahmen ihres «Prism»-Projektes Aufschluss über Personen, die Bauanleitungen für Bomben suchen oder Details zu geplanten Angriffen austauschen. Wer vor der Online-Lektüre dieses Beitrags noch sein Facebook-Konto gecheckt hat, ermöglicht dem Geheimdienst gleich noch die Verknüpfung mit den eigenen Personendaten.

Allerdings ist die Chance gross, dass diese Informationen zu den 99 Prozent «Datenmüll» gehören, die zwar erfasst und gespeichert, aber kaum jemals ausgewertet werden. «Der NSA ist cleverer, als viele denken, und stellt den logischen Kontext zu den Informationen her», sagt June Manley, beim US-Computerkonzern HP weltweit zuständig für Big-Data-Lösungen. So erkennen die Rechner in Utah automatisch das Umfeld von Daten. «Der Satz ‹Du bist eine Bombe› kann auf Englisch als Kompliment, als Kritik oder als Zustand gelesen werden», erklärt Manley das Vorgehen. «Aber es gibt nur eine, für die sich der NSA interessiert.»

Werbebotschaften als Auslöser

Die Kontext-Erkennungstechnologien entwickelt der US-Computerkonzern IBM unter dem Codewort «Watson» und lässt sie laut einem Bericht des «Wall Street Journals» von den US-Geheimdiensten testen und benutzen. Eine IBM-Sprecherin wollte sich nicht näher zu den Details äussern. Typisch für die Entwicklung der Datenbanken und Rechner für die Analyse der riesigen Datenmengen ist die parallele Entwicklung für zivil-kommerzielle und die geheimdienstlich-militärische Verwendung. Denn Computersysteme müssen «lernen», was «normal» und was auffällig und damit verdächtig ist.

Ein Beispiel sind die Nascar-Rennen in den USA: Bei dieser amerikanischen Variante der Formel 1 fragen sich die Konzerne, die Werbung schalten, nur etwas: Wann welche Zuschauer den Pizza-Service anrufen oder Bier bestellen: In der Pause, beim Boxenstopp, nach einem Überholmanöver – oder nach dem Werbespot. Hinzu kommt die Kommunikation der Zuschauer über ihre Tablet-Computer oder Smartphones während des Rennens. Lassen sich diese Erkenntnisse auch auf die Kommunikationsweise verdächtiger Personengruppen im nördlichen Pakistan übertragen? «Ja, natürlich», sagt Manley, «und dabei spielt es übrigens auch keine Rolle, ob sie einen Dialekt verwenden oder ob sie ihren Dialog mit Tarnworten verschlüsseln – entscheidend ist die Verwendung bestimmter Stichworte untereinander.»

Es sind aber nicht nur zivile Sportereignisse, mit denen der NSA seine Erkenntnisse über typische und verdächtige Verhaltensweisen gewinnt und ständig verbessert.

Kein Mensch kann heute das Geschehen der Millionen installierten automatischen Kameras live mitverfolgen, die besonders in den USA und Grossbritannien den öffentlichen Raum überwachen. Die Auswertung der Bilder erfolgt mit Computerhilfe: Verdächtig ist, wer sich rascher als die Masse bewegt, untypisches Gepäck wie einen grossen Rucksack trägt oder Gegenstände deponiert. Rechner erfassen diese Daten in Echtzeit. Allerdings hapert es noch mit der zeitgleichen Auswertung und Alarmauslösung, wie das Beispiel des Attentats am Marathon von Boston gezeigt hat.

Auch die Auswertung von Facebook-Profilen erfolgt heute in Echtzeit. Facebook verkauft Informationen zu den Benutzern an interessierte Firmen, damit diese mehr über die Personen erfahren, die ihre eigenen Webauftritte «gelikt» haben.

Datenberge wachsen noch rascher

Laut IT-Experten braucht der NSA für seine Zugriffe auch gar nicht die offizielle Zustimmung oder Zusammenarbeit mit Facebook, Google, Microsoft, Apple, Dropbox oder Yahoo. Diese Firmen haben einen automatischen Zugriff des NSA dementiert. Da ein Grossteil des weltweiten Datenverkehrs über Datenleitungen in den USA fliesst, genügt die Zusammenarbeit mit den Betreibern dieser sogenannten «Backbones» und zentralen Datenknotenpunkten. Mit Verizon und AT&T arbeitet der NSA laut Medienberichten eng zusammen. Mit Verizon Wireless und T-Mobile USA offenbar nicht, weil diese ausländische Eigentümer haben.

Das riesige NSA-Rechenzentrum in Utah soll im Herbst in Betrieb gehen. Laut den Fachleuten von HP brüstet sich der NSA damit, bereits ein Brontobyte an Daten gesammelt zu haben. Das ist eine unvorstellbar grosse Zahl mit 27 Nullen – und ist viel mehr, als Google, Facebook & Co. bisher selber abgespeichert haben.

Bereits jetzt ist absehbar, dass das Tempo der Datensammlung noch zunimmt: Die neue Microsoft-Spielbox hat eine Kamera, die erkennt, wer gerade im Wohnzimmer ist. Und wenn Google ab nächstem Jahr seine «Glass»-Brillen kommerziell vertreibt, «sieht» der NSA auch automatisch, wer diesen Artikel liest.

Der bisher sichere Papierdruck bildet damit keinen Schutz mehr.