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Interview

«Das System ist todkrank»: Warum der Soziologe Ruud Koopmans das europäische Asylwesen für unmoralisch hält – und was er daran ändern würde

Tausende ertrinken im Mittelmeer, gleichzeitig leidet Europa unter den Straftaten junger Asylbewerber. Wer kommt, gehört meist nicht zu den Bedürftigsten. Besserung sei nur möglich, wenn Linke und Rechte über ihren Schatten sprängen, sagt der niederländische Migrationsforscher.
«Das Risiko, im Mittelmeer zu sterben, ist grösser als das Risiko, seit Beginn des Bürgerkriegs als Zivilist in Syrien getötet worden zu sein»: Überreste eines Flüchtlingsboots im kalabrischen Steccato di Cutro.
Bild: Carmelo Imbesi/EPA

Herr Koopmans, in Ihrem neuen Buch beschreiben Sie das europäische Asylwesen als das tödlichste der Welt. Dass grundlegende Reformen notwendig sind, dürfte angesichts des Sterbens im Mittelmeer kaum jemand bestreiten …

Ruud Koopmans: Nicht nur im Mittelmeer. Schon der Weg dorthin ist gefährlich. Wir wissen nicht einmal, wie viele bereits in der Sahara umkommen. Die Zahlen für das Mittelmeer kennen wir dagegen gut: In den letzten zehn Jahren sind dort 25’000 Menschen ertrunken. Das sind ein bis zwei Prozent derer, die es versuchen. Das Risiko, dort zu sterben, ist grösser als das Risiko, seit Beginn des Bürgerkriegs als Zivilist in Syrien getötet worden zu sein. Allein das zeigt, dass das System todkrank ist.

Wie konnte ein System entstehen, das zu so viel Leid führt?

Unser derzeitiges Asylrecht wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, um zu verhindern, dass sich das wiederholt, was in den Dreissigerjahren mit den jüdischen Flüchtlingen geschah, die von den Nazis verfolgt wurden: Nachbarländer wie die Schweiz oder die Niederlande liessen zwar einige herein, wiesen aber auch viele zurück. Da es kein Asylrecht gab, konnten sie tun, was sie wollten.

Mit Ausnahme der Ukrainer reist heute kaum noch ein Flüchtling direkt aus einem Nachbarstaat in die Mitgliedsländer der EU ein.

Die Bosnier in den Neunzigerjahren und die Ukrainer, die heute kommen, sind in dieser Hinsicht tatsächlich grosse Ausnahmen. Sonst fliehen nur sehr wenige direkt in die EU; die meisten kommen über eine oder mehrere Zwischenstationen, wo sie keine Verfolgung befürchten müssen. Afghanen reisen etwa durch den Iran und die Türkei ein. In den seltenen Fällen, in denen sich das Erstaufnahmeland in Europa befindet, sollten wir das Verfahren so belassen, wie es jetzt ist. Dass wir unbegrenzt Ukrainer aufnehmen, ist richtig, denn sie stehen mit dem Rücken zur Wand.

Und die anderen? Brauchen sie unseren Schutz nicht?

Fast die Hälfte der Asylanträge in Europa werden abgelehnt. Und bei denen, die anerkannt werden, handelt es sich meist nicht um diejenigen, die unseren Schutz am dringendsten bräuchten: Hauptsächlich kommen junge, gesunde Männer, die oft aus relativ wohlhabenden Familien stammen. Ein Schlepper kostet Tausende Euro. Frauen, Kinder, Alte und Kranke bleiben dagegen auf der Strecke. Ich versuche, zum Ursprungsgedanken des Flüchtlingsrechts zurückzukehren: von denen, die schutzbedürftig sind, so vielen wie möglich zu helfen.

Am meisten Widerspruch dürfte Ihre Forderung nach einer Auslagerung von Asylverfahren in Drittländer auslösen. Was versprechen Sie sich davon?

Australien hat die Asylverfahren vor zehn Jahren nach Nauru und Papua-Neuguinea ausgelagert. Dadurch wurde das Sterben im Meer innert weniger Jahre ebenso beendet wie die irreguläre Zuwanderung. Die Asyllager, die in den beiden Partnerländern eingerichtet wurden, waren nach wenigen Jahren fast leer. Der Grund ist, dass die meisten Flüchtlinge sich bereits in anderen Ländern aufhalten, wo sie sicher sind. Wären sie noch in direkter Kriegs- oder Verfolgungsgefahr, würden sie auch nach Nauru gehen.

Einer Kooperation mit Ruanda, wie Grossbritannien und Dänemark sie anstreben, erteilen Sie eine Absage. Welche Kriterien müssten die Partnerländer erfüllen?

Sie müssen internationale Rechtsstandards einhalten. Wenn man schaut, wie Ruanda in der Vergangenheit das internationale Flüchtlingsrecht angewendet hat, kann man berechtigte Zweifel haben, ob dieses Land der richtige Partner ist. Auch Australiens Auswahl ist nicht optimal, weil es mit sehr armen Ländern kooperiert. So entsteht ein ungleiches Verhältnis: Man bezahlt dafür, dass andere etwas erledigen, das man selbst nicht tun will. Das ist fast schon eine neokoloniale Beziehung.

Was sollten europäische Länder potenziellen Partnern anbieten?

Ich würde Migrationsabkommen abschliessen: Die Partnerländer bekommen nicht nur Geld, sondern auch legale Einwanderungsmöglichkeiten für ihre Bürger. Dadurch würde die Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung gefördert: Die Leute würden sehen, dass ihr Land nicht nur Menschen aufnimmt, sondern dass sie selbst auch die Chance erhalten, in Europa zu arbeiten. Tunesien, Senegal und Albanien wären Länder, mit denen die Europäer kooperieren könnten.

Die politischen Verhältnisse in Schwellen- und Entwicklungsländern sind oft instabil. Spricht das nicht gegen solche Kooperationen? Wer weiss schon, wer morgen in Tunis regiert?

Es kann auch passieren, dass man ein Abkommen wieder kündigen muss, aber man kann nicht immer nur mit lupenreinen Demokraten zusammenarbeiten. Es gibt auch Länder, die keine beispielhaften Demokratien sind und die trotzdem ihren Beitrag zum Schutz von Flüchtlingen leisten. Selbst eine Diktatur wie die Türkei tut dies, auch wenn man türkische Asylbewerber natürlich nicht dorthin zurückschicken sollte.

Zum Thema Kriminalität und Migration präsentieren Sie eindrückliche Zahlen: Demnach sind Flüchtlinge unter den Gewalt- und Sexualstraftätern deutlich übervertreten. Andererseits zeigen Statistiken, dass die Zahl der Gewaltverbrechen etwa in Deutschland seit Jahren kontinuierlich zurückgeht. Ist Europa durch die Zuwanderung tatsächlich unsicherer geworden?

Langfristig sinkt die Zahl der Gewalttaten, aber der Rückgang wird durch die Zuwanderung gebremst. Unter Flüchtlingen ist die Kriminalitätsrate sehr viel höher als unter dem Rest der Bevölkerung. Das hat teilweise demografische Gründe: Junge Männer, die unter den Flüchtlingen übervertreten sind, sind es auch unter den Gewalt- und Sexualstraftätern. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle: Da diese jungen Männer aus patriarchalen Kulturen stammen, ist ihnen das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, wie wir es in Europa pflegen, vollkommen fremd. Manche meinen, ein Mann habe das Recht, seine untreue Ehefrau zu töten.

Bei Gerichtsverfahren wird häufig darüber diskutiert, ob eine Gewalttat islamistisch motiviert war oder ob der Täter psychische Probleme hatte. Ist eine solche Unterscheidung in manchen Fällen überhaupt möglich?

In vielen Fällen gehen Krankheit und Fanatismus ineinander über: Auch Menschen mit psychischen Problemen werden von Ideologien beeinflusst. Die Bedeutung der islamistischen Ideologie zeigt sich an der Tatsache, dass es kaum Fälle von nicht muslimischen Flüchtlingen gibt, die psychisch erkrankt sind und solche Gewalttaten begehen. Der Attentäter von Würzburg, der 2021 drei Frauen tötete, war psychisch krank, aber er rief auch «Allahu akbar!» Was die Bewertung solcher Verbrechen angeht, wird oft mit zweierlei Mass gemessen: Der rechtsextreme Attentäter von Hanau, der ebenfalls psychisch krank war, gilt als Beispiel dafür, wie rassistisch die deutsche Gesellschaft angeblich sei. Bei Islamisten heisst es dagegen, sie seien Einzeltäter, deren Taten nichts mit dem Islam zu tun hätten.

Für das Problem des Islamismus scheinen viele Linke blind zu sein. Sie verliessen in den Neunzigerjahren die grüne Partei der Niederlande, weil deren damaliger Chef ein Verbot von Salman Rushdies «Satanischen Versen» erwog. Hat sich seither etwas geändert?

Auch damals gab es schon solche und solche Linke. Bei den deutschen Grünen gibt es Politiker wie Cem Özdemir, der die Gefahr des Islamismus sieht und auch benennt. Aber viele schauen noch immer weg. Bei den deutschen Sozialdemokraten sehe ich, wie Islamisten, aber auch türkische Rechtsextreme als normale Gesprächspartner betrachtet werden. Aiman Mazyek, der Chef des Zentralrats der Muslime, gibt sich zwar gemässigt, aber die grösste Organisation im Zentralrat ist die Union der türkisch-islamischen Kulturvereine, die als grösste rechtsextremistische Organisation Deutschlands gilt. Eine andere Mitgliedsorganisation ist das Islamische Zentrum Hamburg, das mit dem iranischen Mullah-Regime verbunden ist.

Würden Sie einem Funktionär wie Mazyek Doppelzüngigkeit vorwerfen?

Selbstverständlich. Er gibt sich tolerant, damit seine Organisation Zugang zu politischen Entscheidungsträgern und staatlichen Subventionen behält. Gleichzeitig repräsentiert er Extremisten. Das ist Heuchelei der schlimmsten Sorte, übrigens auch von den Politikern, die Mazyek hofieren und gleichzeitig vom Kampf gegen Fremdenhass und Frauenfeindlichkeit reden.

Wie kann Integration gelingen? Kann der Staat viel dazu beitragen oder ist nicht eher der Arbeitsmarkt entscheidend? Wer Geld verdient, macht in der Regel keinen Unsinn.

Das ist sicher so, auch wenn es für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt Voraussetzungen gibt, zu denen der Staat einiges beitragen kann, etwa durch Sprachkurse. Die Ansätze in Europa unterscheiden sich teilweise erheblich: Deutschland glaubte lange Zeit an die Rückkehr der Migranten und bemühte sich kaum um Integration. Schweden und die Niederlande setzten auf Multikulturalismus, Frankreich auf Assimilation. Aber wenn man auf die Ergebnisse schaut, sind die Unterschiede gering. Die Differenzen zwischen den ethnischen Gruppen sind allerdings erheblich. Je grösser der kulturelle Unterschied zwischen Europa und dem Herkunftsland, desto schwieriger die Integration. Das betrifft vor allem Muslime.

Kanada ist für Sie ein Vorbild. Aber auch dort werden viele Flüchtlinge aufgenommen, darunter zahlreiche Muslime. Was machen die Kanadier besser?

Die Kontingentflüchtlinge, die in Kanada ankommen, sind ebenso handverlesen wie diejenigen Einwanderer, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Bereits im Erstaufnahmeland wird geprüft, ob jemand schutzbedürftig ist und keine Gefahr darstellt. In Europa nehmen wir dagegen diejenigen auf, die sich an den Grenzen melden.

Einige Vorhaben der deutschen Innenministerin könnten die derzeitigen Probleme eher noch verschärfen. So soll etwa der Familiennachzug erleichtert werden. Predigen Sie in der Wüste?

Das glaube ich nicht. Joachim Stamp, der Sonderbevollmächtigte der deutschen Regierung für Migrationsabkommen, hat kürzlich erklärt, die Möglichkeit einer Auslagerung der Verfahren prüfen zu wollen. Wer Schutzbedürftigen helfen will, muss Kontingentflüchtlinge aufnehmen. Aber dafür muss man auch das andere politische Lager gewinnen, indem man die irreguläre Zuwanderung begrenzt. Nur durch einen Kompromiss können wir den Dauerstreit beenden.

Sie werfen manchen Politikern vor, das Problem lieber zu bewirtschaften anstatt es zu lösen.

Keine Lösung zu finden, ist für manche attraktiv, denn dann können sie dem politischen Gegner die Schuld in die Schuhe schieben. Das gilt für beide Seiten.

Wer ist schlimmer, Linke oder Rechte?

Das ist schwer zu sagen. Auf der linken Seite ist man gerne bereit, über Kontingente und humanitäre Visa nachzudenken. Die Auslagerung von Asylverfahren wird dagegen abgelehnt. Konservative und Rechtspopulisten geben mir dagegen recht, wenn es um die Auslagerung geht, aber von Kontingenten wollen sie nichts wissen. Beide Seiten müssten begreifen, dass auch die Anliegen der anderen ihre Berechtigung haben.

Befinden sich auch Nichtregierungsorganisationen (NGO) unter denen, die eine bessere Lösung blockieren? Manche werfen ihnen vor, Teil einer «Asylindustrie» zu sein.

Es gibt Menschen, die den derzeitigen Zuständen ihren Lebensunterhalt verdanken. Dabei denke ich aber gar nicht so sehr an die NGO. Die könnten eine neue Rolle finden: In Kanada und Australien können sie Kontingente sponsern und sich dabei auch an der Auswahl beteiligen. Viel zu verlieren hätten dagegen die Asylanwälte, denn in Europa würde es kaum noch Verfahren geben. Das ist keine grosse, aber eine politisch sehr aktive Gruppe.

Trotz aller Schwierigkeiten scheinen Sie vorsichtig optimistisch zu sein.

Ich nenne mein Konzept eine realistische Utopie. Ich hoffe, dass sich die Einsicht durchsetzt, dass es so nicht weitergehen kann. Wir können keine Mauern bauen und Pushbacks vornehmen, wie manche Konservative und Rechte es wollen, denn das wäre ein Verrat an unseren Werten. Aber auch die Linke müsste sich von zwei Wahnideen verabschieden: einer Politik der offenen Grenzen und der Vorstellung, irreguläre Migration gehe zurück, wenn man nur reguläre Möglichkeiten schafft. Das ist magisches Denken.