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RAKETENEINSCHLAG IN POLEN

Artikel 5 ist kein Selbstläufer: Alles, was sie über die Nato-Beistandspflicht wissen müssen

Nach dem Raketeneinschlag in Polen treffen sich die Nato-Staaten am Mittwochmorgen zu einer Sondersitzung. Kommt es nun zur Aktivierung der gemeinsamen Verteidigung nach Artikel 5 des Bündnisvertrags?

Militär in erhöhter Einsatzbereitschaft: Polens Präsident Andrzej Duda.
Bild: Keystone

Auch wenn die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist: Bei der Rakete, die am Dienstagabend im polnischen Grenzdorf Przewodow eingeschlagen ist und zwei Menschen das Leben gekostet hat, dürfte es sich um eine ukrainische Flugabwehrrakete handeln. Es war also kein Angriff Russlands auf ein Nato-Mitglied.

Gleichwohl ist die Nato alarmiert und kommt zu einem Sondertreffen in Brüssel zusammen. Es stellt sich die Frage, ob sich der Krieg in der Ukraine zur konkreten Bedrohung für die Allianz entwickelt und ab wann die kollektive Verteidigung ausgelöst wird.

Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um den berühmten Artikel 5 im Nato-Vertrag:

Was regelt Artikel 5?

Im wichtigsten Artikel des Vertrags halten die Nato-Verbündeten fest, dass ein «bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird». Er regelt also den kollektiven Beistand: Wird ein Nato-Mitglied angegriffen, wird die gesamte Nato angegriffen.

Bedeutet Artikel 5 den automatischen Kriegseintritt der Nato?

Nein. Im Artikel ist von «Massnahmen (…), um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen oder zu erhalten» die Rede. Diese würden zwar die Anwendung von Waffengewalt einschliessen. Einen automatischen Kriegseintritt aller Nato-Mitglieder gibt es nicht. Ohnehin ist Artikel 5 kein Selbstläufer: Ruft ihn ein Land an, wird der Nato-Rat einberufen und die weiteren Schritte politisch diskutiert.

Die Untersuchung am Absturzort in polnischen Grenzdorf Przewodow laufen. 
Bild: Keystone

Wird Polen Artikel 5 anrufen?

Nein. Zur Debatte steht aber, dass Warschau Artikel 4 des Nato-Vertrags aktivieren könnte. Dieser sieht Beratungen unter den Alliierten vor, wenn nach «Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.»

Artikel 4 wurde seit Nato-Gründung 1949 sieben Mal in Anspruch genommen, meistens von der Türkei, zuletzt aber am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Beantragt wurde das damals von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Slowakei und der Tschechischen Republik. Als erste Reaktion hat Polen aber bereits Teile seiner Streitkräfte in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt.

Wie reagieren die Nato-Verbündeten?

Ein Sondertreffen des Nordatlantikrats, dem höchsten Nato-Gremium, fand am Mittwochmorgen unter Leitung von Generalsekretär Jens Stoltenberg statt. Im Nachgang erklärte Stoltenberg, es gäbe «keine Anzeichen», dass es sich um einen gezielten Beschuss Polens handelt. Auch habe man keine Anzeichen, dass Russland offensive Aktionen gegen Nato-Mitglieder plane. Erste Erkenntnis würden darauf hinweisen, dass es sich um eine ukrainische Flugabwehrrakete handelte. Trotzdem trage Russland die abschliessende Schuld am Vorfall mit zwei polnischen Todesopfern, da es für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sei.

Am Rande des G20-Gipfels in Bali kamen in der Nacht auf Mittwoch die Nato-Staaten USA, Kanada, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Grossbritannien, Italien und Spanien sowie G7-Mitglied Japan zusammen und verurteilten die «barbarischen Raketenangriffe» Russlands auf die Ukraine.

In einem Telefonat mit Polens Präsident Andrzej Duda erneuerte US-Präsident Joe Biden das «eiserne Bekenntnis der Vereinigten Staaten zur Nato» und sicherte seine Unterstützung zu.

«Unwahrscheinlich», dass Rakete aus Russland abgefeuert wurde: US-Präsident Joe Biden äussert sich am Rande des G20-Gipfels in Bali zurückhalten.
Bild: Keystone

Wann kam die Nato-Beistandspflicht schon zum Tragen?

Das einzige Mal seit Nato-Bestehen, dass Artikel 5 je angerufen wurde, war nach den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001. Die damals 19 Mitglieder beschlossen einstimmig den Bündnisfall und machten die islamistische Terrororganisation Al Kaida mit ihrem Anführer Osama bin Laden für den Anschlag verantwortlich. Als Folge davon startete unter US-Führung eine Allianz von Staaten am 7. Oktober 2001 die Operation «Enduring Freedom» und damit den Krieg in Afghanistan, wo sich bin Laden versteckt hielt. Eine offizielle Nato-Mission zur Stabilisierung Afghanistan folgte erst später. Im vergangenen Jahr zogen die USA und die übrigen Nato-Länder ihre Truppen aus Afghanistan ab.