Es ist zwar nur ein ungeschriebenes Gesetz. Doch die meisten Mitglieder der Landesregierung halten sich daran und äussern sich nach dem Ausscheiden aus dem Bundesrat nicht mehr zu tagespolitischen Themen. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit (siehe dazu auch Kasten unten).
Doch nun brechen gleich fünf alt Bundesräte dieses ungeschriebene Gesetz. Konkret äussern sie sich in einem am Freitag veröffentlichten Podcast von SRF zu den vor bald anderthalb Jahren durch den Bundesrat einseitig abgebrochenen EU-Verhandlungen über ein Rahmenabkommen.
Bundesräte sollen selber in Brüssel verhandeln
Und was die ehemaligen Mitglieder der Landesregierung zum Entscheid des aktuellen Bundesrats sagen, hat es in sich:
«Da muss der Bundesrat in die Hosen»
... findet etwa Alt-Bundesrat Adolf Ogi (im Amt 1987-2000). Was der ehemalige SVP-Magistrat damit meint: Die Verhandlungen mit der EU müssten endlich Chefsache werden. Sprich: Die Mitglieder der Schweizer Regierung sollen persönlich in Brüssel vorstellig werden und nicht mehr immer einfach nur Staatssekretärin Livia Leu vorschicken.
Und auch der Umstand, dass die Verhandlungen mit dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz einfach am Parlament vorbei abgeblasen wurden, gehe nicht. Adolf Ogi in einem gleichentags ausgestrahlten Radiobeitrag in der Sendung «Rendez-vous»:
«Der Rahmenvertrag hätte vor das Volk gemusst.»
Seine Partei traue es dem Volk ja auch sonst jeweils zu, die richtige Entscheidung zu treffen, so der 80-jährige alt Bundesrat aus Bern.
«Volks-Nein besser als Bundesrats-Nein»
Dieser Meinung ist auch alt Bundesrat Arnold Koller (1987-1999). Wie Ogi war auch der heute 89-jährige St.Galler im Amt, als mit der Ablehnung des Beitritts der Schweiz zum Europäische Wirtschaftsraum (EWR) 1992 die europapolitischen Weichen für die letzten drei Jahrzehnte gestellt wurden.
«Ein Volks-Nein wäre besser gewesen als ein Bundesrats-Nein»
... gibt Koller im SRF-Podcast zu Protokoll. Ein solches, so der CVP-Mann, hätte die Schweizer Verhandlungsposition weniger stark geschwächt als die einseitige Absage des Bundesrats nach Abschluss der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen. Denn: «Es wäre demokratisch legitimiert gewesen.»
Auch alt Bundesrat Moritz Leuenberger (1995-2010) äussert sich im Podcast zur bundesrätlichen Europapolitik. Er sei zwar ebenfalls der Meinung, dass sich ehemalige Regierungsmitglieder mit Äusserungen grundsätzlich zurückhalten sollten, schickt der Zürcher Sozialdemokrat seinem Statement voraus. Doch dann sagt Leuenberger:
«Ich habe mich masslos aufgeregt.»
Dies auch, weil die Landesregierung nicht nur «einfach ausgestiegen» sei, so Moritz Leuenberger. Sondern auch, weil der aktuelle Bundesrat «nicht einmal gesagt hat, was er eigentlich will», kritisiert der 76-jährige Genosse die aktuelle Regierung.
Alles in allem also gleich dreifache, schwere Kost für den Bundesrat. Doch mit ganz abgesägten Hosen steht die aktuelle Landesregierung nicht da. Schützenhilfe erhalten Bundespräsident Ignazio Cassis und seine Kolleginnen und Kollegen von einem überraschenden Duo: Micheline Calmy-Rey (2003-2011) und Christoph Blocher. Der SVP-Doyen und die ehemalige SP-Aussenministerin sind sich für einmal einig darin, dass der Abbruch der Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen sinnvoll war:
«Der Rahmenvertrag hat alle gespalten»
... sagt die 77-jährige Sozialdemokratin gegenüber Radio SRF. In dieser Situation sei es sinnvoll gewesen, diese Übung nach sieben Jahren einseitig durch die Schweiz abzubrechen.
Und Christoph Blocher (2003-2007) – immerhin ihr ehemaliger, ärgster Kontrahent in der Landesregierung – argumentiert, der Rahmenvertrag sei ohnehin chancenlos gewesen. Dieser sei an derselben Grundsatzfrage wie einst der EWR-Beitritt gescheitert. Nämlich, ob mit dem Europäischen Gerichtshof bei Streitigkeiten am Ende eine EU-Institution das letzte Wort haben soll:
«Im Grundsatz ist massgebend: Sind wir verpflichtet, EU-Recht auf diesem Gebiet zu übernehmen, ja oder nein?»
... sagt der mittlerweile 81-jährige Zürcher SVP-Übervater. Wenn die Schweiz einen solchen Souveränitätsverlust akzeptieren müsse, sei ein Vertrag «grundsätzlich verloren».
Seit dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU vor bald anderthalb Jahren scheint die Schweiz im Übrigen noch keinen wirklichen Schritt weiter. Sie hat vor bald einem Jahr zwar nach einer Klausur einen «Plan B» vorgelegt über die Beziehung zwischen Bern und Brüssel. Doch auch erste Sondierungsgespräche in Brüssel haben bislang keinen Durchbruch in dem nun seit Jahren blockierten Dossier gebracht.
Von AHV über Heiratsstrafe bis Energiepolitik: Immer wieder brechen alt Bundesräte die informelle Regel
Zuletzt hat es Eveline Widmer-Schlumpf (2008-2015) wieder getan. Im laufenden Abstimmungskampf zur AHV-Reform kritisierte die ehemalige BDP-Bundesrätin Frauen, die eine Erhöhung des Frauenrentenalters ablehnen. Immerhin liegt die 66-jährige Bündnerin damit auf Kurs mit der aktuellen Landesregierung.So, wie das 2020 auch Ruth Dreifuss (1993-2002) getan hatte: Zusammen mit ihrer Partei und dem Bundesrat kämpfte die 82-jährige Sozialistin damals allerdings vergeblich für eine Reform der Altersvorsorge. Ebenfalls auf Bundesratslinie liegt Dreifuss, als die Genferin kürzlich mit alt-Regierungskollege Joseph Deiss (1999-2006) den Beitritt der Schweiz zur UNO vor 20 Jahren verteidigte. Der 76-jährige ehemalige CVP-Bundesrat weibelt seit seinem Ausscheiden aus der Landesregierung allerdings auch weiterhin für den von ihm favorisierten EU-Beitritt.Ruth Metzler (1999-2003) gab letztes Jahr nach einer langen Schweigezeit bei der Lancierung der Initiative für die Individualbesteuerung von Verheirateten ein kurzfristiges politisches Comeback. Dabei engagierte sich die heute 58-jährige CVP-Vertreterin an der Seite der FDP-Frauen.Ebenfalls letztes Jahr meldete sich alt Bundesrätin Doris Leuthard (1999-2006) im politischen Tagesgeschäft zurück. Die 59-jährige ehemalige Aargauer CVP-Magistratin kritisierte nach dem Volks-Nein zum CO2-Gesetz die Energiepolitik ihrer Nachfolgerin Simonetta Sommaruga (SP).Nie ein Blatt vor den Mund genommen haben der heute 80-jährige Freisinnige Pascal Couchepin (1998-2009) und Christoph Blocher. Beide äussern sich in den Medien auch nach ihrem Ausscheiden aus der Regierung regelmässig und pointiert zu aktuellen politischen Fragen. Der 81-jährige Zürcher SVP-Deoyen seit seiner Abwahl gern auch in seinen eigenen Wochenblättern sowie auf dem eigenen Kanal «TeleBlocher». (wap/sat)