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Vor dem Megastreik

Alle Räder stehen still: Warum die Deutschen bald sehr viel häufiger streiken könnten als bisher

Am kommenden Montag dürfte im öffentlichen Verkehr der Bundesrepublik kaum etwas gehen. Die Gewerkschaften kämpfen für höhere Löhne, aber auch gegeneinander und um ihre Zukunft.  
Ein Anblick, an den sich die Deutschen womöglich gewöhnen müssen: Mitglieder der Gewerkschaft Verdi demonstrieren am Hamburger Flughafen (13. März).
Bild: Bild: Christian Charisius/DPA

«Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will», schrieb der Dichter Georg Herwegh 1863. Selten dürfte der Satz der Wahrheit näher gekommen sein als am kommenden Montag: Dann soll im deutschen Verkehrswesen ein beispielloser Warnstreik stattfinden. Eisenbahnen des Nah- und Fernverkehrs, Busse, Schiffe und die meisten Flughäfen wollen die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) für 24 Stunden lahmlegen. Selbst der Strassenverkehr ist betroffen, denn bestreikt wird auch die staatliche Autobahngesellschaft. Welche Auswirkungen dies haben wird, ist noch unklar; deutsche Medien spekulieren über Tunnelsperrungen.

Wenig Verständnis für den Megastreik zeigen naturgemäss die Arbeitgeber: Karin Welge, die Vertreterin der Kommunen in den Tarifverhandlungen, hält das Vorgehen für unverhältnismässig; Steffen Kampeter von der Vereinigung der Arbeitgeberverbände warnt die Gewerkschaften, mit solch umfassenden Aktionen gefährdeten sie die Akzeptanz des Streikrechts. Ganz unberechtigt ist sein Hinweis wohl nicht, denn die Auswirkungen auf das Alltagsleben der Bürger dürften gravierend sein. Der Unmut in der Bevölkerung könnte entsprechend gross sein.

Die Gewerkschaften fordern 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 500 Euro mehr pro Monat. Angesichts hoher Inflationsraten erscheint dies durchaus angemessen. Wer in Städten wie München oder Hamburg als Tramführer oder Buschauffeur arbeitet, kann es sich in der Regel schon lange nicht mehr leisten, eine Wohnung am Arbeitsort anzumieten.

Die deutsche Angst vor französischen Verhältnissen

Ungewöhnlich ist, dass der Warnstreik mit Tarifverhandlungen zusammenfällt, denn am Montag beginnt in Potsdam die dritte Runde der Gespräche für die 2,5 Millionen Beschäftigten des Bundes und der Kommunen. Für die Arbeitgeber ist diese Überschneidung eine Provokation. Martin Burkert, der Chef der EVG, sieht dagegen gerade dadurch ein «Momentum» gegeben, das den Forderungen der Arbeitnehmer zusätzlichen Nachdruck verleihen könnte.

Beispielloses Vorgehen: Frank Werneke, der Chef der Gewerkschaft Verdi, und Martin Burkert, der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, auf einer Pressekonferenz am Donnerstag. 
Bild: Bild: Clemens Bilan/EPA

Der Arbeitgeber-Vertreter Kampeter zieht dagegen Frankreich als warnendes Beispiel heran. Das Nachbarland, das gerade wieder einmal von schweren Konflikten zwischen der Regierung und den Gewerkschaften erschüttert wird, zeige, was geschehe, «wenn man sich auf die schiefe Ebene begibt». Anders als in Frankreich mit seiner vergleichsweise konfliktfreudigen Arbeiterschaft sei der Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital eine deutsche Stärke.

Warnungen vor französischen Verhältnissen sind wohl übertrieben: Brennende Barrikaden und Strassenschlachten zwischen Demonstranten und der Polizei erscheinen in der Bundesrepublik noch immer schwer vorstellbar. Dass sich Deutschland in naher und mittlerer Zukunft auf häufigere und grössere Arbeitskämpfe einstellen muss, ist dagegen durchaus möglich. Das hat mehrere Gründe: Zum einen fehlt es an Arbeitskräften. Geburtenschwache Jahrgänge kommen ins arbeitsfähige Alter, relativ viele werden pensioniert, und gleichzeitig gelingt es dem Land nicht, diejenigen Einwanderer anzuziehen, welche die Wirtschaft bräuchte. Das alles stärkt die Position der Arbeitnehmer.

Scharfe Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften

Hinzu kommt eine Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften: So stand die EVG lange im Schatten der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die sich in den letzten Jahren immer wieder durch eine hohe Streikfreudigkeit und selbstbewusste Forderungen ausgezeichnet hat.

Ihr Vorsitzender Claus Weselsky wurde zwar zeitweise zu einem der unbeliebtesten Deutschen, erlangte aber auch einen Bekanntheitsgrad, der für den Anführer einer relativ kleinen Gewerkschaft enorm war. EVG-Chef Burkert, der 185’000 Bähnler und damit mehr als viermal so viele vertritt wie sein Rivale, war bis jetzt allenfalls Insidern bekannt.

Im Vergleich mit der GDL erschien die EVG lange Zeit unbeweglich und brav. Auch das könnte Burkert motiviert haben, jetzt in die Offensive zu gehen, zumal die deutschen Gewerkschaften als überaltert gelten. Ein spektakulärer Arbeitskampf ist so gesehen auch eine Werbeaktion, um neue Mitglieder zu gewinnen.

Inwieweit die Gewerkschaften ihre öffentlich erklärten Ziele erreichen, ist dagegen fraglich: Für die Fluggesellschaften und die Bahn bedeutet der Streik einen schmerzhaften Einnahmeausfall. Die Arbeitgeber im öffentlichen Dienst, also der Bund und die Kommunen, stehen dagegen nicht unter vergleichbarem Druck, und ihre Neigung, Zugeständnisse zu machen, dürfte durch den Arbeitskampf kaum wachsen.