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Schweizer Linke

AHV, Massentierhaltung, Verrechnungssteuer: Unsere selbsternannten Progressiven sind zu Konservativen geworden

Die Diskussionen um die vier nationalen Abstimmungsvorlagen muten bigott an. Besonders irritierend ist, wie die Linke bei der AHV-Reform auftritt. Sie zementiert mit ihrer Kuhhändel-Haltung ein längst überholtes Rollenbild der Frau.

Die Massentierhaltungsinitiative wird von den Bauern vehement bekämpft, fürchten sie doch nicht zu unrecht massive Investitionsprobleme.
Bild: Keystone

Im Windschatten des russischen Angriffskrieges hat nun Aserbaidschan erneut Armenien angegriffen. Beide Angreifer finanzieren ihre Kriegszüge mit Öl und Gas. Die Schweizer Hilfe an die Ukraine beträgt seit dem Überfall rund 80 Millionen Franken; in der gleichen Zeit floss für Gas das Zehnfache in die Moskauer Kriegsmaschine. Aserbaidschans Angriff wird direkt über die Socar-Tankstellen der Migros finanziert.

Gleichzeitig tut die Innenpolitik so, als hätten wir im reichsten Land der Welt mit ganz existenziellen Herausforderungen zu kämpfen. Darf der Arbeitgeber die Heizung im Winter auf nur 19 Grad einstellen? Muss Benzin vergünstigt werden? Solcherlei wird diskutiert. Derweil stauen sich am Wochenende die Autos vor dem Gotthard, und die Flughäfen sind rammelvoll.

Hehre Ziele mit falschem Ansatz

Ähnlich bigott muten die Diskussionen um die vier nationalen Abstimmungsvorlagen an. Die Schweiz hat die strengsten Tierschutzbestimmungen. Es ist richtig, diese ständig zu überprüfen und, wo nötig, anzupassen. Ich habe seinerzeit meine Diplomarbeit zum revidierten Tierschutzgesetz verfasst. Nun stimmen wir aber über eine Initiative ab, die den Bio-Suisse-Richtlinien von 2018 Verfassungsrang geben will, mit Übergangsfristen von 25 Jahren, also bis fast 2050. 3'300 Bauernbetriebe wären betroffen.

Gleichzeitig liegt der Anteil an gekauften Bioprodukten bei nur 15 Prozent. Die Grossverteiler könnten über die Preispolitik diesen Anteil schon längst erhöhen, die Konsumenten erst recht. Der Kaufentscheid bestimmt das Angebot. Statt via Verfassung 3'300 Bauernbetriebe über ein Vierteljahrhundert in Investitionsprobleme zu bringen, können wir alle schon heute über ehrliche Kaufentscheide das Tierwohl und die ökologische Landwirtschaft ganz direkt stützen. Mit aufrichtiger Konsequenz geht es den Tieren nicht 2050 besser, sondern schon morgen.

Alte Frauenbilder zementiert und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht

Gemäss der Linken sind die Frauen die grossen Leidtragenden der AHV-Reform.
Bild: Keystone

Noch hypokriter sind die Diskussionen um die zwei AHV-Vorlagen. Bei der Einführung der AHV 1948 lag das Rentenalter für alle bei 65, in der patriarchalen Nachkriegszeit haben die Männer dem «schwachen Geschlecht» das Limit gönnerhaft zweimal gesenkt. Die Hausfrauenrolle wurde zementiert. Diese Rückständigkeit soll mit der Revision nun aufgehoben und die Gleichstellung (wieder) bei 65 festgelegt werden. Dies mit der Möglichkeit der flexiblen und schrittweisen Pensionierung zwischen 63 und 70. Solche Lösungen sind in den fortschrittlichen nordischen Ländern längst Realität.

Die Diskussion dazu ist allerdings so helvetisch wie der Anachronismus selbst. Die angeblich Progressiven wollen das Kuriosum konservieren, als Hebel für politische Kuhhändel. Der Abstimmungskampf dazu ist gehässig. Die Pointe dabei ist, dass seit diesem Jahr im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts der Eintrag des Geschlechts auf dem Zivilstandsamt ganz unbürokratisch geändert werden kann.

Dramatische Worte und Bilder auch beim Kampf gegen die Verrechnungssteuerreform. 
Bild: Keystone

Ähnlich neu-helvetisch aufgeregt auch die Debatte um die Mikro-Reform der Verrechnungssteuer in einem Teilbereich. De facto soll damit das Geschäft mit Obligationen von Luxemburg in die Schweiz zurückgeholt werden. Was andernorts als rationale Politik im Interesse des Landes geräuschlos durchgehen würde, wird in der verwöhnten Schweiz mit einer dramatisch aufgeladenen Argumentation verbissen bekämpft. Das einst besonnene Land überdreht.

Das Gebot der Stunde: realistisch sein und Prioritäten setzen

Der Kontrast zur Politik der fortschrittlichen Länder des Nordens könnte nicht grösser sein. Dänemark und Finnland positionieren sich in Fragen der Geopolitik, Sicherheit, Migration, Energie und Innovation an der Spitze Europas. Beide werden von Sozialdemokratinnen geführt, welche mit ihrem Realismus so ziemlich genau die entgegengesetzte Politik betreiben wie unsere angeblich Progressiven.

Wenige Flugstunden östlich wird in diesen Stunden und Tagen äusserst brutal Machtpolitik gemacht. Die Verbrechen der Angreifer gegen die Menschlichkeit sind unsäglich. Wir sollten bis zum Kriegsende die Prioritäten neu ordnen, Sekundäres tief einlagern und die Hausaufgaben nüchtern erledigen. Als Erstes müssen wir solidarisch und mit aller Kraft das Völkerrecht verteidigen helfen – im ureigensten Interesse.

Thomas Kessler ist Mitglied des Publizistischen Ausschusses von CH Media und beruflich spezialisiert auf Integration, Sicherheit und Migration.