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20 Jahre Swissair-Grounding

«Ach, die Swissair...»: Ein Rückblick auf gloriose Zeiten der Schweizer Luftfahrt – und ihr bitteres Ende

Am 2. Oktober jährt sich das Grounding der nationalen Fluggesellschaft zum 20. Mal. Der Untergang der «fliegenden Bank» veränderte das Schweizer Selbstgefühl. 

Die Schweizer Fluggesellschaft Swissair wird am 2. Oktober 2001 wegen fehlender Liquidität zum sofortigen Einstellen des Flugbetriebes gezwungen. Auf dieser Aufnahme ist Daniel Riediker, ein nachdenklicher Swissair-Pilot, zu sehen, welcher sich die Wartezeit am Strand von Rio de Janeiro versüsst.
Bild: Bild: Markus A. Jegerlehner

Swiss-Flug LX 38 von Zürich nach San Francisco vor ein paar Tagen. Kurz vor der Landung kommt Flight Attendant Sylvie Merlo* (*Name geändert) ins Reden. Sie hat eine lange Karriere über den Wolken hinter sich, erlebte viele Krisen der Luftfahrt. Sie spricht über Konflikte mit Maskenverweigerern, ausbleibende Geschäftskunden und ihre bevorstehende Frühpensionierung. «Es wird nicht besser, und die Swiss machte älteren Crew-Angestellten wie mir ein gutes Angebot», sagt die Westschweizerin.

Und was ist mit dem 2. Oktober, der immer näher rückt? Merlo zuckt mit den Schultern. «Was passiert an diesem Tag?» Dass sich das Swissair-Grounding dann zum 20. Mal jährt, ist ihr entgangen. Zu gross sind die aktuellen Sorgen, zu einschneidend ist der coronabedingte Stillstand und seine verheerenden Folgen für die ganze Branche. «Ach die Swissair…».

Die Durchsage um 16.15 Uhr

Es war 16.15 Uhr am 2. Oktober, 2001, als über die Lautsprecher am Flughafen Zürich die Ansage ertönte, die in die Geschichtsbücher eingehen sollte: «Meine Damen und Herren, liebe Fluggäste. Aus finanziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durchzuführen.»

Airline mit internationalem Renommee: Die Swissair war der Stolz der Schweizer Luftfahrt – und eines ganzen Volks. 
Bild: Susann Basler

Das Grounding – seit 2001 ein fester Wert im helvetischen Wortschatz - ist mehr als bloss die grösste Firmenpleite der Schweizer Nachkriegszeit. Es ist die Erinnerung an eine düstere Zeit, an eine Wirtschaftskrise, die mit den Terroranschlägen am 11. September in New York ihren Anfang nahm, an den «schwarzen Herbst» in der Schweiz mit zahlreichen Katastrophen, vom Crossair-Absturz in Bassersdorf, über das Zuger Attentat bis hin zum Brand im Gotthardtunnel.

Und es ist die Erinnerung an den Moment, in dem das Schweizer Selbstverständnis hart getroffen wurde. Denn die Swissair, das war die «fliegende Bank», der Stolz der bürgerlichen Schweiz, die beste Botschafterin der hiesigen Tugenden: Präzision, Pünktlichkeit, Klasse. Und die Piloten gaben im Telefonbuch mit Stolz ihren Beruf und Arbeitgeber an.

1948 hob die «Swiss Air Lines» zum ersten Mal ab. Hier Passagiere beim Einstieg in eine Douglas DC-4 in Zürich-Kloten. 
Bild: Eth-Bildarchiv Und Zvg / LTA

Die Berufung in den Verwaltungsrat galt als Ritterschlag in Schweizer Wirtschaftskreisen. Zum FDP dominierten Gremium zählten in den 90er-Jahren Namen wie jener des Unternehmers Thomas Schmidheiny, des Bankers Lukas Mühlemann oder der Nationalrätin Vreny Spoerry. Im Nachhinein ist klar: Es war ein Filz-Rat, der Gratis-Flüge und Prestige genoss, seine Aufsichtsfunktion aber aussenvor liess.

Der Jäger: Swissair-Chef Philippe Bruggisser wollte die Swissair mit seiner «Hunter»-Strategie noch grösser machen und beteiligte sich an anderen europäischen Airlines.
Bild: KEYSTONE

Im Frühling 2000 übernimmt der damalige FDP-Regierungsrat Eric Honegger das Präsidium – und schaut zu, wie Swissair-Chef Philippe Bruggisser seine verwegene, mit Hilfe von McKinsey-Beratern ausgeheckte «Hunter»-Strategie umsetzt, die letztlich darauf beruht, nach der Beteiligung an der belgischen Sabena weitere Zukäufe zu tätigen und so vor allem den Umsatz zu bolzen. Der selbstbewusste Manager will die Swissair zur viertgrössten Airline Europas machen - nach der Lufthansa, der British Airways und der Air France.

Doch die übermutige Strategie verfängt nicht. Die SAirGroup beteiligt sich an drittklassigen Airlines, die Kosten steigen ins Unermessliche. Honegger handelt und entlässt Bruggisser im Januar 2001 fristlos. Der rasante Sturzflug geht weiter. Nur zwei Monate später tritt der gesamte Verwaltungsrat zurück. Die Wut in der Bevölkerung köchelt und näherte sich dem Siedepunkt.

Auftritt: Mario Corti. Der ehemalige Nestlé-Finanzchef übernimmt das Ruder. Obwohl er kein Aviatiker ist, ruhen allein auf ihm die Hoffnungen auf einen Turnaround in letzter Minute. Erst später wird bekannt, dass Corti für einen Fünfjahres-Vertrag 21 Millionen Franken erhalten sollte.

Im Juli 2001 befindet sich die Swissair schon längstens in Schieflage. Konzernchef Mario Corti und seine Finanzchefin Jacqualyn Fouse an einer Pressekonferenz in Zürich. 
Bild: Dorothea Mueller

Gleich zum Amtsantritt muss «Super Mario» einen Verlust von 2,9 Milliarden Franken kommunizieren. Er prüft stärkere Synergien mit der Crossair, verkauft die Duty-Free-Tochterfirma Nuance, und den Bodenabfertiger Swissport, um an Geld zu kommen. Und er begräbt symbolträchtig den Gruppennamen SAirGroup. Mit dem Grössenwahn soll es vorbei sein. Nun geht es nur noch um das Überleben der Swissair.

Am 5. September, drei Wochen vor dem Grounding, hält der Bundesrat fest, er habe Vertrauen ins Management, dass es die Situation meistern könne. Eine Staatshilfe sei kein Thema. Doch dann krachen zwei Flugzeuge in New York ins World Trade Center. Am 11. September 2001 steht die Welt still. Die Luftfahrt ist in ihrem Mark getroffen. Und Cortis Sanierungspläne sind plötzlich Makulatur.

Die Terroratacken am 11. September 2001 stürzen die weltweite Luftfahrt in eine Krise. Für die serbelnde Swissair ist es der Todesstoss. 
Bild: Abc / AP ABC

Sechs Tage nach den Anschlägen orientieren Corti und Finanzchefin Jacqualyn «Jackie» Fouse die Regierung über die Lageverschärfung. Die Botschaft: Ab Oktober droht ohne Milliardenspritze für die Liquidität und eine Rekapitalisierung die Zahlungsunfähigkeit. Doch der Bundesrat wiegelt ab. Er kritisiert das Restrukturierungskonzept als nicht nachvollziehbar und vermisst ein Bekenntnis der Wirtschaft. 19 Jahre später erhalten Swiss und Edelweiss wegen der Pandemie Bundesgarantien in der Höhe von 1,3 Milliarden Franken.

Crossair-Gründer Moritz Suter machte mit beim Seilziehen um die Erarbeitung des «Plan Phoenix». Noch heute fliegt die Swiss mit dem Flugcode LX der einstigen Basler Regionalfluggesellschaft. 
Bild: Keystone

Die Situation verschlimmert sich stündlich. Am 22. September sind bereits 1,5 Milliarden an Garantien gefragt. Die um FDP-Wirtschaftsaushängeschild Ulrich Bremi eingesetzte Arbeitsgruppe kommt zum Schluss, dass für eine Restrukturierung und Refinanzierung der SAirGroup 7 bis 8 Milliarden Franken nötig wären. Nun schliesst die Regierung eine Rekapitalisierung nicht mehr aus.

Und am 30. September erfährt sie erstmals vom «Plan Phoenix», den die Banken mit gütiger Hilfe von Crossair-Gründer Moritz Suter erarbeitet haben: Auf Basis der Regionalfluggesellschaft aus Basel und der Nachlassstundung der Swissair soll eine neue nationale Airline erschaffen werden. Am 1. Oktober wird das Projekt der Öffentlichkeit präsentiert. Doch die Grossbanken zögern ihre Zahlungen hinaus.

Während die Wirtschafts- und Politelite im Hintergrund diskutieren, blutet die Firma an der Front. Die Schieflage macht Firmenpartner nervös. Sie wollen nun sogar fürs Benzintanken Cash sehen. Piloten werden mit Bargeldkoffern ausgestattet, um das Abheben zu sichern.

«Herr Corti, wir stehen hinter Ihnen!», «Herr Ospel, sind Sie absichtlich nicht erreichbar?»: Swissair-Angestellte wenden sich an einer Demo am 3. Oktober 2001 an die Verantwortlichen des Groundings. 
Bild: Walter Bieri / KEYSTONE

Es sind die letzten Zuckungen der einst so stolzen Swissair. Am 2. Oktober um 16 Uhr 15, erhält die Swissair-Angestellte Marianne Cochran einen Zettel mit den Zeilen, die bis heute Nachhallen. In ihrer Durchsage am Flughafen Zürich im Terminal A kommuniziert sie, dass der Airline das Geld ausgegangen ist. Sie wird zur Stimme des Groundings. 4'000 wartende Swissair-Kunden mit gültigen Tickets sind in Kloten unmittelbar betroffen, global sind es 19’000. Nach dem Schock das Chaos. Swissair-Angestellte stürmen den Hauptsitz am Balsberg, weil sie um ihre Pensionskasse bangen, Kunden belagern die Informationsschalter. Tränen fliessen.

Der rettende Überbrückungskredit der Grossbanken ist ausgeblieben. UBS-Chef Marcel Ospel fliegt in den entscheidenden Momenten über dem Nordatlantik und ist für Finanzminister Kaspar Villiger nicht erreichbar, was den Zorn von Verkehrsminister Moritz Leuenberger zusätzlich steigert. «Der Wirtschaftsführer fährt in die Luft, der Bundesrat geht in die Luft», sagt er. Ein weiterer Satz für die Geschichtsbücher.

3. Oktober 2001, Flughafen Zürich: Der Morgen danach. Die Bilder der gegroundeten Swissair-Flotte gehen um die Welt. 
Bild: Steffen Schmidt / KEYSTONE

Das Schweizer Kreuz geht medial um die Welt – auf den Heckflossen der Reihe an Reihe stehenden Flugzeugen. Zum Symbolbild reift jenes des gestrandeten Piloten an der Copacabana, mit Pilotenmütze und -Hemd, kurzen Hosen und den ungewissen Blick in die Ferne gewandt.

Zwei Tage dauert das Grounding, und danach geht es plötzlich schnell. Dank eines Notkredits hebt die Hälfte der Flotte wieder ab und die Schaffung einer neuen Airline wird in Angriff genommen. Am 1. April 2002 landet in Zürich der letzte Linienflug SR 145 aus São Paulo. Einen Tag zuvor, am Ostersonntag, hebt die neue Schweizer Airline erstmals am Euroairport in Basel ab, mit dem neuen CEO André Dosé an Bord und dem bis heute benutzten Crossair-Flugcode LX.

Der ehemalige Crossair-Pilot André Dosé wird erster Chef der neuen Fluggesellschaft Swiss. 
Bild: Guido Röösli

Doch die am Schreibtisch entworfenen Pläne für eine neue, eigenständige Schweizer Airline erweisen sich bald als nicht sehr nachhaltig. Dosé muss mehrere Abbaurunden verkünden. 2005 wird die Swiss an die Lufthansa verkauft, wo sie sich, eingebettet im Grosskonzern, zur ertragsstärksten Airline der Lufthansa-Gruppe entwickelt.

2021, der Flug LX38 landet bald in San Francisco. «Ach die Swissair…», sagt Flight Attendant Sylvie Merlo*. «Das waren andere Zeiten.» Rückblickend sei es immerhin ein Ende mit Schrecken gewesen im Gegensatz zur heutigen Pandemie, die so viel schlimmer sei und sie nun zum frühzeitigen Pensionierungsschritt zwingt. Und noch etwas Positives verbindet sie mit der untergegangenen Nationalairline, denn ihr Mann war auch Flight Attendant. «Ohne die Swissair hätten wir uns nie gefunden.»

Das sagt der Swiss-Chef zum Grounding

Am 2. Oktober 2021 herrscht bei der Swiss courant normal. Das Grounding wird bei der Swissair-Nachfolgerin nicht kommentiert werden, wie es auf Anfrage heisst. Sie bevorzugt es, kommendes Jahr ihren 20. Geburtstag zu feiern. Swiss-Chef Dieter Vranckx, der gemäss Lebenslauf während dem Grounding bei der Swissair als Manager tätig war, verzichtet auf das Erzählen persönlicher Anekdoten.
Stattdessen sagt er gegenüber CH Media: «Wie bereits die Swissair steht auch die Swiss als Fluggesellschaft der Schweiz für deren traditionelle Werte und verpflichtet sich zu höchster Produkt- und Servicequalität.» Man sei – wie die Swissair damals - ein Schweizer Unternehmen und verbinde die Schweiz direkt mit den weltweit wichtigsten Metropolen.
Und: «Im Unterschied zur Swissair profitiert die Swiss von der Stärke und dem Synergiepotenzial der Lufthansa Group und ist in einem nach wie vor äusserst kompetitiven Marktumfeld mit einer der jüngsten und treibstoffeffizientesten Flotten Europas gut aufgestellt.»
Die Swiss hält noch immer die Swissair-Namensrechte, die sich mit Lizenzvergaben aufrecht erhält. Unter anderem benutzt die Motorfluggruppe Zürich das Swissair- und Crossair-Logo. Zudem verdient die Swiss so auch am Verkauf von Swissair-Merchandising-Artikeln wie Trolleys, Uhren und Taschen mit. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte, den Namen Swissair im Airline-Geschäft zu reaktivieren, nimmt Swiss-Chef Vranckx auf Anfrage keine Stellung.