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Analyse

Abgesänge auf den Westen erweisen sich einmal mehr als verfrüht: Warum China bei der Pandemie-Bekämpfung versagt

Corona ist ein Lehrstück: Was die Systemkonkurrenz betrifft, aber auch, was vorschnelle Urteile angeht. Vor zwei Jahren priesen manche in Amerika und Europa Peking noch als Vorbild. Dabei wäre mehr Vertrauen in das eigene Gesellschaftsmodell angebracht.

Medizinisches Personal in Schutzanzügen transportiert einen Covid-Patienten ab: China ist binnen weniger Tage zum weltweiten Coronahotspot geworden. Offiziell will man aber noch keinen Toten registriert haben.
Bild: Kevin Frayer/Getty

Die Coronapandemie war und ist eine weltweite Bewährungsprobe: Für Gesellschaften, Wissenschafter, Politiker und Kommentatoren. Was heute noch richtig erscheint, kann morgen schon als falsch gelten. Zu Beginn der Pandemie erklärten führende deutsche Politiker das Tragen einer Mund-Nasen-Maske für Hysterie; einige Wochen später erklärten sie es in weiten Teilen des öffentlichen Raums zur Pflicht.

Regierungschefs und Minister, die an einem Tag als Versager hingestellt wurden, erschienen kurz darauf als weitsichtige Staatsmänner: Wer erinnert sich heute noch daran, wie der damalige britische Premierminister Boris Johnson als trotteliger Corona-Verharmloser beschrieben wurde? Wenige Wochen später schien er plötzlich alles richtig gemacht zu haben, weil sein Land bei der Bestellung von Impfstoffen deutlich schneller gehandelt hatte als die meisten Mitgliedsstaaten der EU.

Urteile erwiesen sich reihenweise als vorschnell, und wer sich mit starken Meinungen an die Öffentlichkeit wagte, musste auf das schlechte Gedächtnis des Publikums hoffen. Wie die Pandemie-Politik des Schweizer Gesundheitsministers Alain Berset und seines deutschen Amtskollegen Karl Lauterbach einmal abschliessend bewertet wird, muss sich noch zeigen: Die Medien ihrer Länder gaben Berset und Lauterbach lange Zeit Geleitschutz, doch mit der Zeit wurden auch Zweifel laut.

Unangebrachte Selbstzweifel des Westens

Politiker wie Johnson, Berset und Lauterbach kommen und gehen; ihre Bilanzen geben Stoff für parteipolitische Polemiken her und dürften relativ bald vergessen sein. Anders verhält es sich, wenn man aufs grosse Ganze blickt. Hier stellt sich etwa die Frage, wer die Pandemie besser bewältigt hat: die Demokratien des Westens oder der chinesische Einparteienstaat?

Das Bild, das sich ergibt, ist für den Westen beunruhigend – allerdings weniger, was die Pandemiepolitik angeht als vielmehr, was die Urteilskraft mancher westlichen Beobachter betrifft: Diese lagen nicht nur reihenweise falsch, sondern offenbarten auch eine seltsame Sympathie für autoritäre Herrschaftssysteme, verbunden mit einem wenig ausgeprägten Vertrauen in das eigene Gesellschaftsmodell: «Wie China über den Westen triumphiert», titelte etwa die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» Ende 2020. Sie war mit ihrem Urteil nicht allein.

Auch westliche Wissenschafter lobten Pekings Vorgehen: Europa und Amerika müssten ihre Furcht vor den kurzfristigen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen überwinden, die Einschränkungen der Freiheit nach chinesischem Muster mit sich brächten, schrieb «The Lancet», eine der führenden medizinischen Fachzeitschriften, im März 2020.

Etwas klüger, weil vorsichtiger positionierte sich die deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik, auf deren Analysen auch Schweizer Journalisten gerne zurückgreifen: Chinas «drakonische, teils inhumane Massnahmen der Seuchenbekämpfung» hätten sich als «äusserst erfolgreich erwiesen»; die «erfolgreiche Eindämmung von Covid-19» habe «eine Rückkehr zur Normalität und einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung» ermöglicht, schrieben die Berliner Forscher im Dezember 2020. Immerhin meldeten sie Zweifel an, ob der Erfolg nachhaltig sei. «China – Pandemie-Gewinner für den Moment», überschrieben sie ihre Studie.

Dem chinesischen Ansatz fehlte es an Flexibilität

Einige Wochen vorher, am 8. September 2020, hatte der chinesische Staatschef Xi Jinping den Sieg über das Virus erklärt. «China ist die erste grosse Volkswirtschaft, die sich von der Krise erholt hat, was seine Resilienz und Lebendigkeit unter Beweis stellt», sagte er. Xi sah darin einen Beweis für die Überlegenheit des eigenen Systems. Tatsächlich war die Volksrepublik in diesem Jahr die einzige grosse Volkswirtschaft, die wuchs. Im Oktober 2020 reisten Millionen Chinesen in die Ferien, während das öffentliche Leben in Europa weitgehend stillstand.

Die Pandemie hatte ihren Ausgang Ende 2019 auf einem Tiermarkt in der chinesischen Millionenstadt Wuhan genommen. Gerüchte, das Virus entstamme einem chinesischen Labor, wollten nie verstummen. Lange Zeit wurden sie als Verschwörungstheorie abgetan; mittlerweile wird die Labor-These auch von seriösen Beobachtern zumindest in Betracht gezogen. Für Peking brachte die Pandemie einen enormen Prestigeverlust mit sich: Donald Trump, der damalige amerikanische Präsident, sprach von der «China-Grippe» und forderte Entschädigungen.

Xi reagierte, indem er die Bekämpfung der Pandemie zum Teil des Systemwettbewerbs mit dem Westen erklärte. Dabei ging er vor, wie nur ein Diktator vorgehen kann: mit Massentests, Einreisebeschränkungen, einer raschen Isolation von Infizierten und der Abriegelung ganzer Millionenstädte. Freilich fehlte es seinem Ansatz an Flexibilität: Das Aufkommen der hoch ansteckenden Omikron-Variante hätte Massenimpfungen und sehr viel mehr Intensivbetten erfordert. Zum Umsteuern war Xi allerdings nicht bereit: Fehler einzugestehen, wäre aus seiner Sicht wohl ein Zeichen von Schwäche gewesen.

Nun hat China das Problem, dass die Impfrate viel zu niedrig ist. Bei vielen liegt die letzte Impfung schon so lange zurück, dass sie ihre Wirkung verloren hat. Doch das Regime steht vor einem Dilemma: Nach Protesten musste es die Einschränkungen Anfang Dezember lockern. Lockdowns soll es nicht mehr geben, PCR-Tests wurden weitgehend abgeschafft. Nun breitet sich das Virus rasend schnell aus; nach Ansicht von Wissenschaftern könnte es bis zu einer Million Chinesen das Leben kosten.

In einer Diktatur fehlt der Wettbewerb um die beste Lösung

Wer Xi beim Wort nimmt und den Systemvergleich macht, muss zu einem Schluss kommen, der für China wenig schmeichelhaft ausfällt: Abgesehen davon, dass nicht einmal das legitime Ziel der Pandemiebekämpfung undemokratische Mittel rechtfertigt, ist Peking schlicht gescheitert.

Der Grund dafür ist klar: Eine Diktatur mag schneller effiziente Massnahmen ergreifen können als ein demokratischer Rechtsstaat, doch den Kurs zu ändern fällt einem autoritären Regime schwerer als einer freien und offenen Gesellschaft: Zum einen, weil die Regierenden den Gesichtsverlust noch mehr fürchten als demokratische Politiker, zum anderen, weil das Umfeld von Potentaten in der Regel aus Duckmäusern besteht: Das freie Wort und damit auch der Wettbewerb um die beste Lösung gibt es in einem solchen Umfeld nicht. So erweisen sich die Abgesänge auf den Westen einmal mehr als verfrüht.