notifications
Schweiz [News Service]

Crypto-Affäre: Der Schweizer Geheimdienst war ausser Kontrolle

Nun liegt der Untersuchungsbericht zur Crypto-Affäre vor: Der Geheimdienst ging demnach ohne Wissen des Bundesrats Crypto-Kooperation mit der CIA ein. Im Zentrum steht Ex-Nachrichtendienstchef Peter Regli.
Die Maschinen der Zuger Firma Crypto liessen eine Hintertüre offen für die Geheimdienste CIA und BND.  (KEYSTONE/Ennio Leanza)
Nachrichtendienstchef Peter Regli 1999 mit seinem Chef, Bundesrat Adolf Ogi, der ihn nach der Affäre Bellasi freistellte.  (Keystone/Lukas Lehmann)
Sah sich nicht in der Verwantwortung: Ex-Nachrichtendienstchef Markus Seiler.  (Chris Iseli)
Der Sitz der Firma Crypto im Jahr 2020, inzwischen von der CIA verkauft.  (Keystone/Alexandra Wey)

Henry Habegger

Henry Habegger

Henry Habegger

Henry Habegger

Es war 1993. FDP-Bundesrat Kaspar Villiger war seit vier Jahren Chef des Militärdepartements. Im Herbst dieses Jahres erhielt der damals im Generalstab der Armee angesiedelte Strategische Nachrichtendienst (SND) «verlässliche» Informationen über die Crypto AG in Zug. Der Geheimdienst erfuhr, so die Erkenntnisse der Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) des Bundesparlaments unter SVP-Nationalrat Alfred Heer (ZH) in ihrem heute publizierten Untersuchungsbericht zur Crypto-Affäre, dass die Zuger Verschlüsselungsfirma den Auslandgeheimdiensten der USA und Deutschlands gehörte. Also der CIA und dem BND.

Der Schweizer Geheimdienst erfuhr in jenem Jahr 1993 auch, dass die Crypto zweierlei Sorten von Geräten herstellte: «Schwache» Geräte, deren Verschlüsselung leicht zu knacken war. Und «starke» Geräte, die als sicher galten. 1993 war übrigens das Jahr, in dem der BND seine Anteile an die CIA verkaufte. Im Jahr zuvor, 1992, wurde Hans Bühler, Schweizer Mitarbeiter der Crypto, im Iran verhaftet. Man hielt ihn für einen Spion, der die Schlüssel-Codes der Crypto-Geräte an Nachrichtendienste verkaufte. Dabei war Bühler nicht im Bild über die Machenschaften seines Arbeitgebers. Bühler kam erst Anfang 1993 wieder frei, nachdem offenbar der BND eine Million Lösegeld zahlte.

Schweizer Geheimdienst als «stiller Teilhaber»

Leiter der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr im EMD war 1993, als laut GPDel alles begann, Peter Regli, der heute noch immer wieder als Experte in Medien in Erscheinung tritt, obwohl er selbst in diversen Affäre eine dubiose Rolle gespielt hatte. Unter Regli gelangte der Nachrichtendienst mit seinem Wissen über die getürkten Geräte der Crypto aber nicht etwa an den Bundesrat. Laut GPDel erfuhr Kaspar Villiger laut eigenen Aussagen nie etwas davon. Stattdessen verfolgten die Schweizer Geheimdienste ab jetzt das Ziel, die Geräte mit «schwacher» Verschlüsselung selbst zu knacken. Das sollte in der Folge jahrzehntelang geschehen. Ab der Jahrtausendwende auch mit der neuen Abhöranlage Onyx, die Verbindungen von Kommunikationssatelliten abhören konnte.

Aber erst jetzt, fast drei Jahrzehnte später, wird das Ausmass der Affäre deutlicher. Im Februar berichteten internationale Medien gestützt auf ihnen zugespielte Geheimdienstpapiere über die beispiellose Schnüffelaktion, die vom amerikanischen und vom deutschen Geheimdienst in den Siebzigerjahren gestartet worden war. Seit 1970 gehörte die Zuger Chiffrierfirma der CIA und dem BND. Eine Art stiller Teilhaber war, das verdeutlicht sich jetzt, auch die Schweiz. Oder, wie sich andere Kenner schon vor Jahren ausdrückten: der Schweizer Geheimdienst als «Tochtergesellschaft» von CIA und BND.

Schweiz profitierte massiv von ihrem Mitwissen

Rund 100 Staaten soll die Crypto zu ihren besten Zeiten mit unsicheren Chiffriergeräten ausgestattet haben, um ihre Kommunikation heimlich überwachen zu können. Die Schweiz, vermuten die Geheimdienstkontrolleure von der GPDel jetzt, habe immer sichere Geräte erhalten. Sie profitierte laut GPDel aber massiv von ihrer heimlichen Teilhabe an den Machenschaften von CIA und BND. Der Delegation seien konkrete Fälle bekannt, in denen die Entschlüsselungskapazitäten Resultate lieferten, aus denen die Schweizer Behörden und die Armee «grossen Nutzen» gezogen hätten. Die «Teilhabe» an den Crypto-Machenschaften zahlten sich also für den neutralen Staat offenbar aus.

Aber die Medaille hat eine Kehrseite. Laut GPDel, die insgesamt sehr milde und auch widersprüchlich urteilt über das eigenmächtige Verhalten der Geheimdienste, machte sich die neutrale Schweiz damit mitverantwortlich an den Umtrieben der ausländischen Geheimdienste und ihrer Schweizer Firma. Da der Schweizer Geheimdienst und die US-amerikanischen Dienste «im gegenseitigen Einvernehmen handelten», liege eine Mitverantwortung der Schweizer Behörden für die Aktivitäten der Crypto AG vor.

Eigenmächtige Geheimdienstchefs

Laut dem Befund der GPDel weihten die jeweiligen Geheimdienstchefs ihre politischen Vorgesetzten nicht in die Geheimnisse der Crypto ein. Jedenfalls fand die GPDel keine Hinweise darauf, dass die Politik je darüber ins Bild gesetzt wurde. Das Wissen sei ein gut gehütetes Geheimnis einiger weniger Spitzenleute innerhalb des Schweizer Auslandgeheimdienstes gewesen, des SND, später des Nachrichtendienstes des Bundes gewesen. Nur die jeweiligen Direktoren wussten Bescheid, zusätzlich je nach Zeitpunkt noch ein oder zwei ausgewählte Mitarbeiter. Regli und seine Nachfolger «vererbten» das Wissen also unter sich, sie gaben es weiter an ihre Nachfolger.

Ihre Vorgesetzten aber informierten sie nicht. In der Zeit, als der Auslandnachrichtendienst der Untergruppe Nachrichten unterstellt war – also in der Zeit von Regli – wusste auch die militärische Hierarchie nichts vom Crypto-Geheimnis, stellt die GPDel fest. Auch die sechsköpfige GPDel, dieses verschwiegene und mit der Geheimdienstkontrolle befasste Gremium des Parlaments, wurde laut eigenen Angaben nie über die Umtriebe ins Bild gesetzt. Obwohl es mehrere Untersuchungen führte.

Wenn das alles stimmt, dann bildeten hier einige Herren eigenmächtig einen Staat im Staat und definierten selbst, wer was zu wissen brauchte.

Dann entschieden sie eigenmächtig über ihre heimliche Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten. Dann definierten sie selbst, was Staatsräson war und war sie zu bedeuten hatte. Dann war es eine kleine Clique, die entschied, was gut war für die Staatssicherheit und was nicht.

Seiler stellte sich blind und taub

Per 2010 fusionierte die Schweiz ihre In- und Auslandgeheimdienste zum Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Erster Direktor wurde, eingesetzt von Verteidigungsminister Ueli Maurer (SVP), FDP-Mann Markus Seiler, heute Generalsekretär bei Aussenminister Ignazio Cassis. Später wurde laut GPDel nicht über die Informationszugänge des Geheimdienstes zur Crypto informiert. Das mag damit zusammenhängen, dass Seiler, Bürokrat und ehemaliger Parteifunktionär, von den Geheimdiensten nie ernst genommen wurde. Aber laut GPDel vermutlich schon in seinem ersten Amtsjahr, jedenfalls aber in seinem letzten Amtsjahr, also 2017, sei Seiler von dritter Seite- offensichtlich von Kryptologen der Armee - darüber informiert worden, dass die Crypto auch «schwache Geräte» herstellte. Ihm wurde aufgezeigt, welche Möglichkeiten das Wissen über die Geräte der Schweiz eröffnete.

Seiler habe sich aber geweigert, eine entsprechende Informationsnotiz entgegenzunehmen. Er habe sich nicht in der Verantwortung gesehen. Die GPDel macht ihm jetzt den Vorwurf, dass er seine Verantwortung nicht wahrgenommen habe. Er habe mit seinem Vorgehen verhindert, dass sich die politische Führung rechtzeitig mit den relevanten Fragen befassen konnte. Das Versäumnis des NDB-Chefs sei rückwirkend umso schwerwiegender, als der NDB und der Bundesrat noch ohne Zeitdruck – der durch die medialen Enthüllungen über die Crypto entstand – hätten handeln können. Kritik muss Seiler auch einstecken, weil der NDB unter ihm noch im Jahr 2014 Akten zu ausländischen Partnerdiensten vernichtete – illegalerweise, so die GPDel.

Erst Gaudin wurde aktiv

Der erste Geheimdienstchef, der etwas in der Sache unternahm, war der aktuelle NDB-Chef Jean-Philippe Gaudin. Zwar wurde auch Gaudin, der sein Amt Mitte 2018 antrat, von seinem Stellvertreter Paul Ziniker, der einer der wenigen Eingeweihten war, über die Crypto informiert. Aber Gaudin wurden Anfang 2019 laut GPDel – offenbar erneut durch Armee-Kryptologen - die gleichen Infos zur Kenntnis gebracht wie Seiler zwei Jahre zuvor.

Im Unterschied zu Seiler erkannte Gaudin aber laut GPDel immerhin den Handlungsbedarf, er gab eine detaillierte Präsentation und gab Mitte 2019 eine «Standortbestimmung» in Auftrag. Als er später im Jahr Kenntnis erhielt von den laufenden Medien-Recherchen zum Thema, beschleunigte er die Untersuchung. Am 19. August 2019 informierte er seine Vorgesetzte, Bundesrätin Viola Amherd (CVP), anlässlich einer Amtsleitungssitzung. Amherd war damit, laut GPDel, das erste Mitglied des Bundesrats überhaupt, das vom Geheimnis der Crypto erfuhr. Bis dahin hatten sämtliche Geheimdienstchefs, von Regli über Hans Wegmüller bis hin sogar zu Seiler, dieses Wissen für sich behalten. Sie hatten es eigenmächtig nur mit Leuten geteilt, die sie selbst bestimmten.

Scharfe Kritik an Parmelin

Mitte September 2019 lag die von Gaudin in Auftrag gegebene Standortbestimmung vor, damit lag laut GPDel das entscheidende Wissen auf dem Tisch. Die Parlamentarier, dies im Kontrast zu ihrem erstaunlichen milden Urteil über die Eigenmächtigkeit der früheren Geheimdienstchefs, werfen Gaudin wie auch dem VBS ab hier vor, ab hier zu langsam gehandelt zu haben. Gaudin habe zwar dank eigener Recherchen herausgefunden, dass in einem geheimen Bunker der Armee noch Unterlagen über die Crypto deponiert lagen. Aber diese Unterlagen habe er zu lange nicht auswerten lassen. Er habe zudem die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Vorgängerdiensten des NDB, den US-Diensten und der Crypto nicht aufarbeiten lassen, sondern ihre Relevanz heruntergespielt. Auch das VBS habe in der Folge den politischen Handlungsbedarf nicht genügend erkannt. So kritisiert die GPDel, dass Amherd im Dezember 2019 im Bundesrat erklärt hatte, der Informationsstand reiche für eine inhaltliche Aussprache nicht aus. Diese Aussage sei aber nach dem Aktenfund im NDB-Bunker nicht mehr zutreffend gewesen.

Ganz schlecht weg kommt in der Untersuchung der SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Sein Departement hatte, als die Affäre eskalierte, nach Rücksprache mit dem NDB die Generalausfuhrbewilligung für Crypto-Geräte sistiert. Dieser Entscheid sei materiell und rechtlich nicht gerechtfertig gewesen, so die GPDel. Auch die Strafanzeige, die bei der Bundesanwaltschaft in der Folge eingereicht wurde, sei verfehlt gewesen. Sie habe auf einer unsorgfältig erstellten Faktenlage basiert und auf mangelhafter rechtlicher Argumentation. Offenbar, so vermutet die GPDel, sei sie aus politischen Gründen erfolgt und unter medialem Einfluss. Die Delegation empfiehlt dem Bundesrat, die an die Bundesanwaltschaft erteilte Ermächtigung zur Strafverfolgung zurückzuziehen.

Bundesrat verlangt massenhaft Korrekturen

Aus dem Umfeld von mehreren Bundesräten wiederum wird der GPDel vorgeworfen, ihr Bericht sei unsorgfältig abgefasst und voller inhaltlicher Fehler und daraus resultierend unzulässiger Wertungen und Schlussfolgerungen. Eine ganze Reihe von Überarbeitungen und Korrekturen wurde im Vorfeld der Veröffentlichung verlangt. «Ich habe noch nie einen derart schlechten Bericht gesehen», sagt ein Regierungsmitarbeiter. So wird kritisiert, dass die GPDel den rechtlichen Hintergrund der Strafanzeige des Wirtschaftsdepartements nicht verstanden habe. Auch verschiedene Kritik am Verteidigungsdepartement beispielsweise wurde als inhaltlich schlicht falsch bezeichnet. Die Delegation wurde aufgefordert, den Bericht zu überarbeiten.