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Popgeschichte Schweiz

Wer hat’s erfunden? Bischofszell, Lenzburg oder Hütten? Wo der
Open Air-Samen zuerst gesät wurde

Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre fanden in der Schweiz
die ersten Openairs statt. Aber wo war das erste? Eine Reise in
die bewegten Jahre Jahre.
Die Musikformation «Illgauergruess» mit Domini Marty, rechts, im Juli 1976 auf Schloss Lenzburg am Folkfestival.
Bild: Reto Sinniger / RETO SINNIGER

Woodstock und die Rock-Revolution, Hippies und die Ideen von 68 blieben nicht ohne Auswirkungen auf das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben in der Schweiz. Die Jugend rebellierte, traditionelle Leitbilder gerieten ins Wanken und versetzten die Schweiz in eine Orientierungskrise. In dieser Zeit des Umbruchs entstanden auch die ersten Openair-Festivals. Analog zu den Hippiefesten im «Summer Of Love» und von Woodstock 1969 waren es nicht einfach Konzerte im Freien. Sie hatten starken Happening-Charakter. Es ging um ein neues Gemeinschafts- und Lebensgefühl einer Jugendgeneration, die die verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen aufbrechen wollte.

Diesen Geist von Liebe, Friede und Freiheit lebte auch das Folkfestival Lenzburg. «Es war der erste, schönste und einflussreichste Openair Festival der Schweiz», sagt der Liedermacher Urs Hostettler, der schon bei der ersten Austragung im Juni 1972 Mit-Veranstalter war. Lenzburg war so etwas wie die Mutter aller Schweizer Openair-Festivals, hatte bestimmt die grösste Bedeutung. Es war der Startschuss für viele Nachahmer und für den Openair-Boom in der Schweiz. Aber war es wirklich das Erste?

Bischofszell: Das älteste Open Air der Schweiz

Bischofszell, Open-Air, 19.08.1978: Infra Steff's Red Devil Band - V.l.n.r.: Steff Signer, Jaap Visser, Theo Jost, Alan Solomon, Ditschgi Gutzwiller.
Bild: Zvg / Aargauer Zeitung

Einspruch kommt aus der Ostschweiz. Mehrfach bezeugt ist, dass ein Jahr zuvor, also im Sommer 1971, die erste Ausgabe des Open-Airs Bischofszell stattfand. Es ist leider schlecht dokumentiert, Fotos und Plakate aus jener Zeit sind nicht auffindbar. Trotzdem darf es sich «Das älteste Openair der Schweiz» nennen. Organisiert wurde es damals von der katholischen Jugendorganisation «Team 69» Sitterdorf, die 1970 gegründet wurde und neben dem Openair auch Filmabende, Theateraufführungen und Konzerte veranstaltete.

Die beiden Antreiber waren damals Norbert Scherer und Walter Dahinden. «Ich war noch in der Lehre», sagt Scherer, «wir waren Rockfans und wollten etwas auf die Beine stellen». Natürlich seien sie von Woodstock inspiriert gewesen, auch in der Ostschweiz atmete man etwas vom Geist der Zeit. Das Open-Air habe viele Hippies von nah und fern angezogen. «Aber Hippies waren wir nicht», wehrt Scherer ab. «Open & free» war die Losung. Die ersten Openairs waren gratis. «Wir sind jeweils rumgelaufen und haben Spenden gesammelt. Zusammen mit dem Getränkeverkauf kamen wir knapp raus», sagt Walter Dahinden. Bischofszell wollte damit jenen Veranstaltern entgegenwirken, die Popkonzerte zu einem Geschäft mit der Jugend machen wollen.

Bischofszell sei es es gelungen, seinen kleinen, intimen und nicht-kommerziellen Charakter zu behalten, sagt der Historiker Wale Abegglen, der etwas später zum Verein gestossen ist. Er betont, dass der Verein als «teilautonomes Jugendzentrum» damals eine Vorreiterrolle gespielt habe. Der Gemeinderat habe dem Jugendverein «vertrauensvolle Selbstverwaltung und grösstmögliche Freiheit» gewährt. Für damalige Verhältnisse war das also sehr fortschrittlich.

Regen vertreibt Openair-Premiere in die Turnhalle

Hauptact am ersten Open-Air Bischofszell waren die Zürcher Rockpioniere von Krokodil, neben weiteren lokalen Bands. Doch weil es an diesem Tag stark regnete, mussten die Konzerte kurzfristig in die Bitzi-Turnhalle verlegt werden. «Die Halle war gerammelt voll und platze aus allen Nähten», erinnert sich Dahinden. Und auch die zweite Ausgabe mit der Kraut-Rock-Band Guru Guru und lokalen Bands wie Wilhelm Tell und Take It musste wetterbedingt in die Turnhalle Neukirch an der Thur verlegt werden. Ein klassischer Fehlstart. Das erste wirkliche Freiluft-Festival in Bischofszell fand demnach erst 1973 in einer Waldlichtung in Bischofszell statt.

Hat also doch in Lenzburg 1972 das erste Schweizer Openair stattgefunden? «Das Open-Air Bischofszell ist das älteste Openair, das es noch gibt», präzisiert Dahinden, der nicht ausschliesst, dass es in der Schweiz noch frühere Openair-Festivals gegeben hat.

Früh am Openair-Feeling geschnuppert hat auch das Montreux Jazzfestival. 1967 von Claude Nobs gegründet, wurden spätestens ab 1969 im Rahmenprogramm Konzerte und Jam-Sessions um den Casino-Garten und den Casino-Pool durchgeführt. Ein eigentliches Openair-Festival war das aber nicht.

Die Vorreiter: Love-Ins in Zürich und St. Gallen

Das erste Love-In auf dem Bauernhof in Hütten/Zürich. 
Bild: ETH-Bibliothek

Zumindest eine Vorreiterrolle haben auch die «Love-Ins» in Zürich gespielt. Inspiriert vom grossen Hippiefest in Kalifornien, dem «Monterey Pop Festival» organisierte die Plattenfirma EMI mit den damaligen Rädelsführern Hardy Hepp und Düde Dürst am 26. August 1967 in einem Bauernhaus in Hütten auf dem Hirzel das erste «Love-In». Die Teilnehmer waren handverlesen und erste das zweit «Love-In» eine Woche später auf der Zürcher Allmend war mit gegen 2000 Zuschauern öffentlich. Gemäss dem Journalisten Beat Hirt war der Hippiekult damals aufgesetzt und wirkte wie eine Verkleidungsparty. Wie eine Street Parade im Jahr 1967.

Aber die «Love-Ins» waren nicht nur Happenings, es gab auch Konzerte. Walty Anselmo, der erste Rockmusiker der Schweiz, spielte mit seiner Band Anselmo Trend, The Minstrels und weitere Bands und Musiker traten auf. Alles gratis und unbedingt unkommerziell. Für Düde Dürst waren das die ersten Openairs der Schweiz - nur nannte man sie noch nicht so.

Die «Love-Ins» hatten Wirkung und Einfluss. Am 1. August 1969 plante Krokodil ein Konzert auf Chüebode Alp oberhalb Unterwasser Toggenburg. Doch auch hier war das Regenwetter der Spielverderber. «Nach einer umfangreichen Züglete, spielten wir auf der Allmend», erinnert sich Hardy Hepp. Hier auf der Zürcher Allmend wurde danach jahrelang das Pfingstfest mit Freiluft-Konzerten durchgeführt.

Krokodil 1. August 1969, Alpkonzert Chüebode Alp.
Bild: Zvg / Aargauer Zeitung

Der Hippiegeist wehte über die Schweiz und erreichte 1969 auch St. Gallen, wo am 6. Juni 1969 im Sittertobel St. Gallen das Sitter-In mit Deaf, damals die beste St.Galler Rockband, The Club und einem Joe-Cocker-Imitator stattfand. Organisiert wurde es von der HSG-Gruppe «Inform» und Aktivisten aus der Region als Gegenfest zum steifen Hochschul-Ball. Ein wildes Musikfest um ein Dutzend Feuerstellen, das die ganze Nacht dauerte und zwischen 500 und 1000 Leute anzog. «Eine Ad hoc-Veranstaltung, ein relativ spontanes Treffen von Gleichgesinnten mit Musik», wie Freddy Geiger, der spätere Organisator des Openairs in Abtwil (1977) und des Openairs St. Gallen erzählt. Der Openair-Virus war gesät und bereit zur Verbreitung.

Das Plakat des Sitter-In 1969 in St. Gallen.
Bild: zvg

Hütten, Bischofszell oder Lenzburg? So eindeutig ist die Sache mit dem ersten Openair Festival in der Schweiz also nicht. Aber alle Genannten haben als Pioniere die Frucht gesät und entscheidend zur Entwicklung und immensen Verbreitung der Openairs in der Schweiz beigetragen. Heute weist kein anderes Land eine solche Dichte an Openair-Festivals aus. Und vor vier Jahren wurde die Open-Kultur in die Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz aufgenommen.

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