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Best of Octobre

Snarky Puppy liefert unser Album des Monats. Dicht dahinter die Debüts von Andrina Bollinger und Seraina Telli

Die 19-köpfige Jazz-Funk-Formation wird weltweit gefeiert und setzt mit dem aktuellen Album neue Massstäbe. Die Debütalben von Andrina Bollinger und Seraina Telli sind aus Schweizer Sicht die Glanzlichter des Monats.

Snarky Puppy mit Bandleader und Bassist Michael League.
Bild: Bfreedphoto / Aargauer Zeitung

1. Snarky Puppy: Empire Central

Das Genre des Jazz-Funk hat sich parallel zum Jazz-Rock entwickelt und erlebte seinen künstlerischen und kommerziellen Höhepunkt in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre und frühen 80er-Jahre. Damals schien alles gesagt. Spurenelemente des Jazz-Funk waren danach zwar auch in Disco, House, Hip-Hop und Nu Jazz zu finden, doch dass dem Genre Jahre später neue Facetten abgewonnen werden könnte, damit hat wohl niemand gerechnet. Gelungen ist dies dem 2004 von Michael League gegründeten Musikerkollektiv Snarky Puppy. Punkto Intensität, Komplexität und Dichte setzt es neue Massstäbe.

Nach 13 Alben und vier Grammys wird die Band aus Dallas weltweit kultisch verehrt, die Konzerte rund um den Globus werden frenetisch gefeiert. Das 14. Album «Empire Central», ein Doppelalbum, das in diesen Tagen erscheinen wird, dürfte den formidablen Ruf des Ensembles noch verstärken. Es ist grandios.

Snarky Puppy hat seine Wurzeln natürlich auch in den 70er-Jahren, doch anders als im damaligen Jazz-Rock geht es der Band nicht um einen sportiven Wettbewerb des Schneller-höher-lauter. Es geht auch nicht um die virtuose Selbstinszenierung von Solisten. Gekonnt umschifft Snarky Puppy aber auch das harmlose Gesäusel des Soft-Jazz.

Der Band geht es primär um die Schaffung eines ganz eigenen Bandsounds, der ganz entscheidend mit der Besetzung zu tun hat. Die aktuelle Band von «Empire Central» umfasst 19 Musiker. Die Gitarren waren schon immer dreifach besetzt, diesmal verfügt aber auch die Perkussion und das Schlagzeug über eine Dreierbündelung. Dazu kommen vier Keyboarder, vier Bläser (zwei Trompeten und zwei Saxofonisten) und der Violinist Zach Brock. Im Zentrum steht Bandleader und Michael League, der vom Bass aus, die ganze Big Band lenkt und steuert.

Was auf dem Papier Chaos vermuten lässt, verwandelt sich auf «Empire Central» in ein veritables Groovemonster. Die Mehrfachbesetzungen werden raffiniert verzahnt und entfalten einen schier unglaublichen polyrhythmischen Reichtum. Mehr ist hier tatsächlich Mehr. Dass es nicht überladen wirkt, erfordert Disziplin und Anstrengung, klingt aber überhaupt nicht so. Snarky Puppy schüttelt die kompliziertesten Grooves mit einer Leichtigkeit aus dem Ärmel, die die Zuhörerschaft staunen lässt. Der Sound ist so entspannt, unangestrengt und optimistisch, dass er Musikern wie Zuhörern unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Das Fundament von Snarky Puppy ist der Jazz-Funk der 70er-Jahre wie etwa in «Mean Green». Snarky Puppy lässt sich aber von überall auf der Welt inspirieren. «Belmont» von Bandleader Micheal League, der heute in Spanien lebt, basiert auf einem Flamenco-Rhythmus, «Honiara» lässt der Folklore der pazifischen Solomon-Inseln einfliessen, «Portal» Elemente der uruguaischen Spielart der Candombe, «Broken Arrow» hat einen brasilianischen Touch, in «Coney Bear» groovt ein Afro- Beat und in «RLs» mündet ein texanischer Blues-Shuffle in eine ekstatische Orgie.

«Free Fall» und «Cliroy» gedenken dem verstorbenen Trompeter Roy Hargrove und seinem Jazz-Hip-Hop-Projekt RH Factor und «Take It» ist eine Hommage an Gast-Keyboarder Bernard Wright, der kurz nach den Aufnahmen bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Und wer es nicht für möglich hält, dass es noch besser geht, der wird nach fünfzehn Stücken und über 80 Minuten Musik eines Besseren belehrt. «Trinity» ist das kompositorische und solistische Glanzlicht eines Albums, das kaum Wünsche offenlässt.

Wie schon bei früheren Alben ist «Empire Central» vor Publikum aufgenommen worden. Im dazu gehörigen Video ist zu sehen, wie die Band im Zentrum eines Raums in Dallas postiert ist und die Zuhörerschaft mit Kopfhörern im Raum sitzend um die Band verteilt ist. Snarky Puppy ist eine ausgesprochen Live-Band, die neben dem musikalischen Hochgenuss auch visuell einiges zu bieten hat. In Verbindung mit Publikum entsteht eine Atmosphäre, die das Konzert zu einem Erlebnis macht.

2. Andrina Bollinger: Secret Seeds

Andrina Bollinger ist wie die Schweizer Ausgabe von Björk, nur mit Melodien und Refrains. Ihr Solodebüt «Secret Seeds» ist eine atemberaubende Entdeckungsreise. Schon in den Bands Eclecta und JPTR hat uns die heute 31-jährige Sängerin und Multi-Instrumentalistin schon in der Vergangenheit mit ihrer ebenso eigenwilligen wie lustvollen Musik erfreut. Eclecta gibt es nicht mehr, und JPTR mit dem Perkussionisten Ramón Oliveras ist auf Eis gelegt. Die Zürcher Sängerin mit Bündner Wurzeln will sich auf ihre Solokarriere konzentrieren, die sie jetzt mit ihrem Debüt «Secret Seeds» so richtig lanciert.

In den letzten Jahren war Bollinger vor allem solo unterwegs und begleitete ihren Gesang selbst auf Keyboards, Perkussion und Gitarre. Ein Solotanz auf dem Hochseil, riskant, kühn und verwegen, die Absturzgefahr gross. Wir kennen sie nicht anders. Das Abenteuerliche scheint zu ihrer DNA zu gehören. Überhaupt gehört sie zu einer Generation von jungen Musikerinnen, die erstklassig musikalisch ausgebildet, ihren Weg ohne kommerzielle Ab-und Rücksichten verfolgen. Sie pfeift auf Konventionen und Erwartungen, hat einen gesunden, rebellischen Geist bewahrt und weiss sich selbstbewusst und eigenständig zu präsentieren. Ohne Rücksicht auf Verluste. Andrina Bollinger ist die Frau, die sich traut.

Zunächst wollte Bollinger für ihr Debüt alles selber machen, einspielen und einsingen. Sie entschied sich dann aber doch, den irischen Produzenten David Odlum (Sam Smith, The Spice Girls) beizuziehen. Er überzeugte die Musikerin, ihr Soloprojekt um weitere Musiker zu erweitern, um den Songs mehr Raum und Tiefe zu geben, dem Projekt aber auch mehr Farbe und Dynamik zu ermöglichen. Sie entschied sich für den welschen Bassisten Jules Martinet sowie ihren Lebenspartner, den Schlagzeuger Arthur Hnatek, der in diesem Jahr einen Schweizer Musikpreis des Bundesamtes für Kultur (BAK) gewann.

Entstanden ist ein atemberaubendes Werk. Flirrend, melancholisch und schwebend. Bollingers Musik ist immer noch verspielt und abenteuerlustig, aber strukturierter, weniger kopflastig und viel, viel sinnlicher. Im Gegensatz zu den extrovertierten Vorgänger-Projekten ist Bollingers Musik heute stärker in sich gekehrt und intimer. Die isländische Sängerin Björk bezeichnet sie als einen wichtigen Einfluss. Der Avantgarde-Pop von Bollinger ist wie von Björk, aber viel eingängiger, fassbarer und klar songorientiert. Sie ist die Björk mit den Melodien und Refrains.

«Storytelling ist mir wichtig», sagt Bollinger. In den Texten erkundet sie verborgene Geheimnisse und kehrt dabei ihr Innenleben nach aussen. Auf «Secret Seeds» beschäftigt sie sich mit der Idee des «Selbst». In «Open My Gates» wird dieses «Selbst» als ein Haus dargestellt, das man erkunden kann. In «House» ist es ein Schloss, in «Ship» ein Schiff auf einer endlosen Reise, im Titelsong ein Samen mit Zukunftspotenzial und in «Lento» eine sich selbst regenerierende Qualle. Es ist eine fantastische, surreale und skurrile Welt, die uns die Sängerin eröffnet.

Hals über Kopf wirft sie sich in die Songs und offenbart uns ihre Gefühlswelt. Leidenschaftlich, offenherzig und erfrischend unverfroren. «Ich will in meinen Gedankenozean eintauchen und so tief wie möglich in meiner Gefühlswelt graben», sagt sie, «ich versuche, den Kopf auszuschalten und intuitiv vorzugehen.» Eine Stimme mit einer solchen Dringlichkeit und Überzeugungskraft hört man in der Schweiz, wo Zurückhaltung eine Tugend ist, nur selten.

Erste Duftmarken hat das Trio in diesem Jahr am Jazzfestival Suisse Diagonales sowie am Jazzfestival Schaffhausen gesetzt. Aber das Etikett «Jazz» ist im Zusammenhang mit Andrina Bollingers Musik eigentlich falsch. Sie wie die Musiker ihrer Band haben Jazz studiert, die Songs sind aus der Improvisation entstanden, und immer wieder wird sie von Jazzfestivals engagiert. Doch vom traditionellen Jazzbegriff hat sie sich längst befreit und sich im avancierten Bereich der Popmusik positioniert. In ihren Popsongs wird nicht improvisiert, geblieben ist die Experimentierlust.

Inzwischen ist das Trio mit dem Pianisten und Keyboarder Alvin Schwaar aus La Chaux-de-Fonds zu einem Quartett angewachsen und klingt noch etwas poppiger und dynamischer. «Heute treten wir hauptsächlich in Pop/Rockclubs und auf Festivals auf», sagt Bollinger, die auch in Musikerkreisen höchsten Respekt geniesst. So wurde sie schon in diesem Jahr bei den Swiss Music Awards in der Kategorie «Artist Award» hinter Mnevis auf den zweiten Platz gewählt. Vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr.

3. Seraina Telli: Simple Talk

Wir kennen die Sängerin Seraina Telli von der Heavy Metal-Frauenband Burning Witches, bei der sie bis 2019 sang. Oder von der Progressive-Rock-Band Dead Venus. Jetzt hat die aus dem Aargau stammende Frontfrau mit ihrem Solo-Projekt eingeschlagen. Ihr Album «Simple Talk» ist von Null auf Platz 2 in der Schweizer Album-Hitparade eingestiegen.

Musikalisch unterscheidet sich «Simple Talk» von bisherigen Werken der Künstlerin. Mit dem selbst erfundenen Begriff «In your Face Rock» beschreibt Telli die Titel. Sie erklärt: «Hard Rock mischt sich mit Punk, Heavy Metal, Pop und Jazz – und ist dabei ‹straight› raus.» Auf dem Album finden wir einfachere Songs, als Telli sie bisher geschrieben hat: «Ich wollte etwas kreieren, das ‹catchy› ist. Im Solo-Projekt habe ich es mehr auf den Punkt gebracht und kürzere Lieder geschrieben, bei denen man mitsingen kann.» Ein bisschen sei das neue Album auch ein Befreiungsschlag gewesen, räumt die Sängerin ein. «Mein neues Label Metalville lässt mich die Art von Musik machen, die ich will, und nimmt mich als Künstlerin so, wie ich bin.» Dies habe sie etwa bei der Band Burning Witches so nicht gekonnt.

Seraina Telli ist erfrischend rotzig, frech, sehr extrovertiert und weiss sich als Frontfrau zu präsentieren. Das ist bemerkenswert und gerade hierzulande eine ausserordentliche Qualität. Sie selbst hebt den Titel «I’m Not Sorry» hervor, indem sie aufgeschrieben hat, wofür sie sich in meinem Leben nicht entschuldigen will. «Die Titel haben viel von mir drin und behandeln Themen, bei denen ich beobachte, dass sie auch andere Leute beschäftigen.» So drehen sich die Texte genauso um die Selbstbestimmung der Frau, wie auch den Verrat durch nahestehende Menschen. «Das Leben inspiriert mich täglich», sagt sie.

4. Makaya McCraven: In These Times

Es war Miles Davis, der mit seinem Produzenten Teo Macero ab 1969 eine Produktionstechnik entwickelte, die mit Tonbandschnitten und Collagen die Livekunst Jazz ins Studio holte. Für das Album «In A Silent Way» hat Studio-Hexer Macero 240 Minuten Musik in einem unglaublichen Reduktionsverfahren auf LP-Format gezwängt. Es war wegweisend.

52 Jahre später knüpft der innovative französisch-amerikanische Schlagzeuger Makaya McCraven bei diesem Produktionsverfahren an. Der 1983 in Paris geborene Sohn der ungarischen Sängerin und Flötistin Ágnes Zsigmondi und des afroamerikanischen Schlagzeugers Stephen McCraven hat sich den Ruf eines Erneuerers und stilistischen Grenzgängers erarbeitet und wurde 2020 vom renommierten «Down Beat Critics Poll» zum besten Produzenten und besten Schlagzeuger gewählt. Diese Kompositionstechnik hat er schon in früheren Werken angewandt, die sich sogar in der Schweizer Hitparade platzieren konnten. Auf seinem neusten Album «In These Times» trieb er diese Kompositionstechnik jetzt auf die Spitze.

McCraven geht vom Live-Erlebnis aus. Am Anfang und am Ende der neuen Platte hört man deshalb auch Publikumsapplaus. Er engagierte eine Schar von Musikerinnen und Musikern, liess sie seine Originalkompositionen spielen und über die Improvisation erweitern. Auf diese Weise sammelte und kuratierte McCraven in den letzten sieben Jahren Live-Aufnahmen aus ganz unterschiedlichen Situationen mit insgesamt bis zu zwanzig Musikerinnen und Musikern. Er trug die Unmengen von Daten aus diesen Marathonsessions ins Studio, wo er sie auseinandernahm und in neuem Kontext zusammensetzte.

«Ich mag diese Puzzles», sagt McCraven dem Magazin «Jazzthing». Es ist zum Markenzeichen geworden. Das Verfahren ist verwandt mit der Produktionstechnik in Hip-Hop, R ‹n› B und Pop. McCraven geht aber immer von der Livesituation und der Improvisation aus. Das Endergebnis besteht mehr aus komponiertem als aus improvisiertem Material. Entscheidend für ihn ist, dass die Live-Energie und der Moment der Entstehung festgehalten und für das Studio genutzt werden. Seine Musik bleibt Livekunst und damit Jazz, auch wenn er sich zuweilen weit von der Tradition des Jazz entfernt.

Eine prominente Rolle nimmt auf «In These Times» Harfenistin Brandee Younger ein, Streicherschwaden geben der Musik einen filmischen Touch, endlich erhält die Querflöte wieder eine Rolle. Man hört, dass sich McCraven intensiv mit dem Werk des verstorbenen Sängers und Poeten Gil Scott-Heron beschäftigt hat. Die Grundstimmung ist warm, sanft und versöhnlich, aber doch zu raffiniert und zu experimentell für Easy Listening. Dafür sorgen auch die aberwitzigen, flirrenden Beats des schlagzeugenden Komponisten, die zentrale Bestandteile der Kompositionen sind.

Klingt abenteuerlich und ist es auch. «In These Times» ist das ambitionierteste Werk von Makaya McCraven. Das Überraschende daran ist, wie selbstverständlich die Puzzleteile der komplex verschachtelten Arrangements ineinandergreifen. Kein Durcheinander, keine abrupten Wechsel. Alles fliesst. Das Endergebnis von «In These Times» ist unglaublich organisch und homogen.

Übrigens: In Livekonzerten lässt Makaya McCraven die Studio-Originale wieder auseinandernehmen und auf der Bühne neu interpretieren. Alles fliesst, nichts ist für die Ewigkeit. Es lebe der Moment!

5. Blue Note Re:Imagined II

Vor zwei Jahren haben Londoner Musiker Schätze aus dem Katalog des legendären «Blue Note»-Labels zeitgemäss aufgefrischt. Weil das Ergebnis so anregend war, wurde die Übung mit anderen Londonern wie Yazz Ahmed, Nubiyan Twist, Oscar Jerome, Theon Cross und diesmal unbekannteren Stücken wiederholt. Und wieder haben die innovativen Londoner einen faszinierenden, stilsprengenden neuen Dreh gefunden. Wir freuen uns schon auf die dritte Ausgabe.

6. Arild Andersen Group: Affirmation

Der 37-jährige Marius Neset ist so etwas wie die neue Lichtgestalt des europäischen Saxofons. Ausgestattet mit einem wunderbar hymnischen Ton und einem unglaublich variantenreichen Spiel. In der Band von Altmeister Arild Andersen kommt es zum Treffen über die Generationen, in dem sich Neset auffällig zurücknimmt, ins Bandkonzept einordnet und mit den norwegischen Mitmusikern gleichberechtigt kommuniziert. «Affirmation» ist grosse Kunst der Interaktion.

7. Dr. John: Things Happen That Way

Der New Orleans-Hexer Dr John hat im Herbst seine Karriere ein Spätwerk von höchster Qualität abgeliefert. Das Album «Things Happen That Way», das drei Jahre nach seinem Tod erschienen ist, erreicht nicht ganz die Klasse der Vorgänger. Die Brummstimme klingt doch schon recht brüchig. Trotzdem enthält das Werk einige Schmuckstücke. Der Rabauke eignet sich Country an, interpretiert Johnny Cash, Hank Williams auf seine unnachahmliche Art, singt mit Willie Nelson und Aaron Neville im Duett und wir verdrücken eine Träne. Rest in peace, Dr. John.

8. Taylor Swift: Midnights

Eine berühmte Duett-Partnerin und die Zusammenarbeit mit einem alten Bekannten: Was es auf dem neuen Album von Pop-Superstar Taylor Swift nach grosser Geheimnistuerei zu hören gibt.

Mit ihrem zehnten Studioalbum ist Taylor Swift nach Ausflügen ins Indiefolk-Genre zu den Beats zurückgekehrt. Die 32-Jährige hat sich für «Midnights», das nach grosser Verschwiegenheit aller Beteiligten veröffentlicht wurde, wieder mit dem Pop-Produzenten Jack Antonoff zusammengetan. Er ist bekannt für eingängig-reduzierte Beats und hat auch schon mit Lana del Rey oder Lorde gearbeitet.

Swift und Antonoff waren bereits für das Album «Lover» (2019) ein erfolgreiches Team. Die US-Sängerin, die in ihrer steilen Karriere unter anderem elf Grammys gewonnen hat, schrieb in der Nacht zu Freitag: ««Midnights» ist als Album ein wilder Ritt, und ich könnte nicht glücklicher sein, dass mein Co-Pilot bei diesem Abenteuer Jack Antonoff war.»

Dies sei die erste Platte, die die beiden grösstenteils nur zu zweit produziert hätten. Das Album habe seine Form angenommen, während ihre Partner - jeweils Schauspieler - zufällig gemeinsam einen Film gedreht hätten. «Jack und ich befanden uns in New York, allein, jede Nacht am Aufnehmen, lange Aufbleiben und gemeinsame Erinnerungen und vergangene Mitternächte erkunden.»

Nach ihren gefeierten Akustik-Werken «Folklore» und «Evermore» von 2020 beschränkt sich «Midnights» ganz auf Swifts Gesang und reduzierte elektronische Beats plus Synthies. Im Hintergrund gibt es Antonoffs zielsichere Spielereien zu hören: Mal wird der Bass kellertief nach unten geschraubt oder ein Beat kurz mit einem Schellenring punktiert. Zu den Highlights gehören die Lieder «Lavender Haze» oder «Vigilante Shit».

«Midnights» ist allerdings kein Tanzalbum. Eher im Midtempo gehalten, sind überwiegend ruhige Stücke dabei. Auf Tanzflächen-Knaller wie «Shake It Off» wartet man vergebens. Die ätherische Ballade «Snow On The Beach» bringt ein Duett mit einem weiteren Star der US-Popmusik: Swift konnte dafür Lana del Rey gewinnen. Diese «zählt meiner Meinung nach zu den besten Musikern aller Zeiten», sagte Swift unlängst.

Wichtig sind bei Swift, die mit zehn Jahren einen nationalen Gedichtwettbewerb gewann, auch immer die Texte. «Midnights» handelt von bereits bekannten Motiven der talentierten Songwriterin: Rache, Feminismus, das Leben in der Öffentlichkeit - und Liebe. Einzelne Songzeilen werden die «Swifties» - so die Bezeichnung für die Millionen Fans der Musikerin - sicherlich für ihre Instagram-Profile oder anderswo in den sozialen Medien auskoppeln.

Zum Beispiel im Englischen eingängige Wortspiele wie: «Well, he was doin’ lines and crossin’ all of mine» (aus «Vigilante Shit»). Oder: «So put me in the basement/ When I want the penthouse of your heart» (aus «Bejeweled»). Ob die Fans diese Textzeilen nach Jahren des coronabedingten Wartens auch wieder live erleben können? Noch hat Swift keine Tour angekündigt.

Wie alle Vorgänger seit «Fearless» (2008) dürfte auch «Midnights» wieder locker auf Platz eins der US-Charts - und der Hitlisten vieler anderer Länder - springen. Die 1989 geborene Sängerin aus Reading/Pennsylvania, die vom eher biederen Country kam, ist längst zu einer globalen Musik- und Stil-Ikone geworden.

Und das auch, weil sie bei aller Freundlichkeit Ecken und Kanten zeigt: Im US-Wahlkampf 2020 positionierte sich Swift klar gegen erzkonservative Trump-Wähler unter ihren Fans, und nach Streit um die Musikrechte an ihren früheren Alben nahm sie alte Musik als «Taylor’s Version» neu auf. Im März wurde der vielfach Ausgezeichneten dann sogar die Ehrendoktorwürde der New York University (NYU) verliehen.

9. The 1975: Being Funny In A Foreign Language

An einigen lieb gewonnenen Gewohnheiten hält die Band aus Manchester beharrlich fest. Da ist zum einen das ungebrochene Faible für ausschweifende Albumtitel, man denke an «A Brief Inquiry Into Online Relationships» (2018) oder an dessen Vorgänger «I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware Of It». «Being Funny In A Foreign Language», Album Nummer fünf , geht da im Vergleich schon fast flüssig über die Lippen.

Und auch der Auftakt eines Albums mit dem Song «The 1975» ist jedes Mal gesetzt – freilich variieren Lied und Text. In der aktuellen Reinkarnation des Stücks singt Matty Healy: «I’m sorry if you’re alive and 17». Die Jugend von heute, sie habe sein Mitgefühl, sagt der 33-Jährige, um dann missvergnügt festzustellen, dass das Leben für einen jungen Menschen in den vergangenen fünfzehn bis zwanzig Jahren ein eklatant anderes geworden sei.

Dem Ernst Rechnung tragend, und da sind wir bei den Neuerungen und der Abkehr von bisherigen Gepflogenheiten, haben The 1975 das bislang grosszügig eingesetzte Stilmittel des Sarkasmus deutlich zugunsten einer neuen Aufrichtigkeit zurückgefahren. In «Part Of The Band» gibt sich Healy, der bis vor vier Jahren heroinabhängig war und seine Sucht in der Öffentlichkeit gelegentlich etwas übermässig zelebrierte, selbstkritisch. Vor allem aber hält ein Gefühlsausdruck, auf dem mit nur elf Songs ungewohnt kurzen Album Einzug: Die Liebe. «Ich fühle mich im Inneren glücklicher und ausgeglichener als früher», sagt Healy. «Happiness» heisst tatsächlich ein von Disco, lässigem 80er-Pop und Bläsern angetriebenes Stück. Auch «I’m In Love With You» weist Spuren von Euphorie auf.

Stilistisch ortet sich das Album nicht mehr zwischen Emo-Pop und Punk ein. Vielmehr bildet nun ein polierter 80ies-Synthie-Sound (mit Streichern) das Fundament. Die Älteren könnten sich an Hits von Hall & Oates erinnert fühlen oder auch Steely Dan. Produzent ist mit Jack Antonoff jener Pop-Impresario, der auch bei Lana Del Rey, Lorde und Taylor Swift für die warme Klangfarbe sorgt. Ein samtenes Vergnügen.

10. Arctic Monkeys: The Car

Was vor gut 15 Jahren mit jungenhaft-ruppigen Songs begann, ist längst zu einer britischen Pop-Institution gereift. Mit ihrem neuen Album «The Car» klingen die Arctic Monkeys so stilvoll wie noch nie.

Es gibt nicht viele Musiker, die ein solches Abo auf Platz eins haben wie die Arctic Monkeys in Grossbritannien. Vom jugendlich rauen Debüt «Whatever People Say I Am, That’s What I’m Not» (2006) bis zum reifen «Tranquility Base Hotel & Casino» (2018) - stets sprangen Frontmann Alex Turner und seine Kumpels an die Spitze der Albumcharts. Und dies, obwohl das Quartett seinen Stil im Laufe der Zeit mehrfach einer Runderneuerung unterwarf.

«The Car», Album Nummer sieben und wie gewohnt beim Indie-Label Domino erschienen, hat also hohe Erwartungen zu erfüllen. Turner scheint der Druck, die Fans mit einem vertrauten, kommerziellen Sound zu locken, jedoch nicht zu hemmen. Diesmal hat er zehn Songs im Angebot, die sein riesiges (und berechtigtes) Selbstbewusstsein als Sänger und Songwriter zeigen. Der schon beim Karrierestart vom UK-Magazin «New Musical Express» als «coolster Mann auf dem Planeten» bezeichnete Musiker gibt diesmal den stilvollen Dandy und Soul-Crooner. Und ist damit an Coolness erneut kaum zu übertreffen.

Alle neuen Lieder - angefangen bei der ersten Single «There’d Better Be A Mirrorball», die mit ihren sahnigen Streicherklängen einen James-Bond-Film verzieren könnte - sind grossartig inszeniert und herausragend gesungen. Turner (36) nähert sich auf «The Car» (schon das an den Einsamkeitsmaler Edward Hopper erinnernde Cover-Artwork ist eine Wucht) den opulenten Stücken seiner Zweitband The Last Shadow Puppets an - und übertrifft deren Klasse deutlich.

Wer nach Referenzen sucht: David Bowie in seiner Soul-Phase Mitte der 1970er Jahre, Frank Sinatra, Scott Walker. Aber dieser Musiker hat selbst ehrenvolle Vergleiche eigentlich gar nicht mehr nötig. Auf «The Car» wagt er sich abermals in neue Bereiche bis zum mondänen Nachtclub-Jazz vor - und kommt auch damit durch. Ob die Band aus der einstigen englischen Stahlstadt Sheffield dafür erneut mit einer Nummer-eins-Platzierung belohnt wird, steht auf einem anderen Blatt.

11. Simple Minds: Direction Of The Heart

Ein «Feelgood-Album» für schwere Zeiten war das Ziel von Sänger Jim Kerr und seiner Band Simple Minds. Auf «Direction Of The Heart» erinnern die Schotten an den Sound ihrer frühen Jahre. Klingt richtig gut.

So schön die 80er Jahre für die Simple Minds auch waren, man kann die Vergangenheit nicht wiederholen. Dessen ist sich Sänger Jim Kerr bewusst. «Aber man kann die Erinnerung daran zurückbringen», sagt der 63-Jährige in London. «Mit bestimmten Sounds und einer gewissen Einstellung geht das.» Gesagt, getan. Auf «Direction Of The Heart» mischen die Schotten New-Wave-Elemente ihrer Anfangsjahre gelungen mit einem modernen Sound für die 2020er Jahre.

In der Pandemie hat Kerr mit seinem kongenialen Songwritingpartner und Gitarristen Charlie Burchill (62) ein Album geschrieben, das reich an Ohrwürmern ist. Bei «Vision Thing» erklingt Burchills atmosphärisches Gitarrenspiel zwischen voluminösen Synthesizern. «Human Traffic» - mit Gastsänger Russell Mael vom Kultduo Sparks - beginnt mit einem Gitarrenriff, das hängen bleibt. Und der Refrain ist bester Stadionrock zum Mitsingen. Wunderbar ist auch «Solstice Kiss», das ein bisschen Ballade und ein bisschen Rockhymne ist.

Die Besetzung der Simple Minds besteht heute aus sieben Musikern und Musikerinnen. Doch pandemiebedingt haben Kerr und Burchill, die beide in Sizilien leben, das meiste im Alleingang gemacht. «Wir haben viel mehr Zeit als sonst zu zweit verbracht», erzählt Kerr. Burchill programmierte sogar die Drumcomputer der meisten Tracks, die zunächst nur für die Demos gedacht waren. «Wir wollten später richtige Drums ergänzen», so Kerr. Schlagzeugerin Cherisse Osei kam aber nur bei drei Tracks zum Zug, weil der Synthie-Drumsound so gut passte.

«Wir wollten ein Feelgood-Album für die schlimmste Zeit machen», sagt Kerr und ergänzt, dass das vielleicht ein bisschen übertrieben klinge. «Aber meine Generation hat keine Kriege erlebt, die wir durchmachen mussten. Deshalb war es für viele Menschen wirklich die schlimmste Zeit.» Sich selbst nimmt der Simple-Minds-Frontmann davon ausdrücklich aus. «Wir arbeiten sowieso in einer Blase. Wenn wir an einem Album arbeiten, machen wir sonst nichts. Wir hatten ein bisschen Normalität, wo andere sie nicht hatten.»

Das mit dem Feelgood-Album ist den Simple Minds genauso gut gelungen wie die Verbindung von Vergangenheit und Moderne. Ohne dass die Band Gefahr liefe, sich selbst zu kopieren, zeichnet «Direction Of The Heart» ein Klanggefühl aus, das atmosphärisch an frühe, coole Klassiker wie «Love Song», «Someone Somewhere (In Summertime)» oder «Glittering Prize» erinnert. Ein wirklich starkes Spätwerk.

12. Düsseldorf Düsterboys: Duo Duo

Schön schräg, schön entspannt und schön schön: Das zweite Album der Düsseldorf Düsterboys ist mindestens so grossartig wie ihr Debüt. Ihr vernebelter und verbremster Indie-Folk klingt gedämpft und steckt voller kleiner Merkwürdigkeit, über die man aber nicht stolpert, sondern sie aufsaugt. Da wird ganz viel experimentiert, aber es bleibt alles locker und geschmeidig, dass es wie ein Pausenknopf zum hektischen Alltag wirkt.

13. Wild Pink: ILYSM

Ein Album über die Liebe. Das war der Plan. Doch dann kam der Krebs. John Ross von der Band Wild Pink erkrankte während der Aufnahmen. Trotzdem ist «ILYSM» (I Love You So Much) nicht zu schwer und zu dunkel geworden. Es ist ein wunderbares, schönes, treibendes und schwelgerisches Album über die Liebe und das Leben. Und auch über den Krebs. Mittlerweile ist Ross krebsfrei. Lauter gute Nachrichten.

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