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Zürcher Theater Spektakel

Sieden bei über 30 Grad: Das Zürcher Theater Spektakel feiert die Hitze und die Ekstase

Fast tropische Nächte, rauschhafte Bühnenereignisse und gnadenlose Kapitalismuskritik. Das Zürcher Theater Spektakel übertrifft am ersten Wochenende die Erwartungen.  
Miet Warlops Performance «One Song» hypnotisierte das Publikum. 
Bild: Bild: Michiel Devijver

Das Zürcher Theater Spektakel ist das grösste Theaterfestival der Schweiz. Aber nicht nur. Es ist Badi, Volksfest und Laboratorium für soziale Gerechtigkeit in einem. Ein Ort, wo Zürich jedes Jahr auf der Landiwiese für zweieinhalb Wochen die Utopie probt. Teenager mit Migrationshintergrund kicken hier zwischen künstlerischen Installationen. Familien applaudieren Clowns und Artistinnen, die für den Weltfrieden die Peace-Fahne entrollen. Es wird gepicknickt, gekifft, getrunken, musiziert. Im Restaurant wird gepflegt diniert. Und mittendrin, von Tausenden Besucherinnen und Besuchern nur am äussersten Gesichtsfeld wahrgenommen, wird auf den provisorischen Bühnen abends das schiefe Fundament des westeuropäischen Wohlstands thematisiert. Ein Fundament, das ein so perfekt organisiertes Festival, an dem sogar Kinder spielerisch die Entsorgung von Abfall antrainiert wird, überhaupt erst ermöglicht.

Natürlich geht diese Strategie, mit Brot und Spielen auf die Not des globalen Südens aufmerksam zu machen, nie auf. Die scharfe Eröffnungsrede des künstlerischen Leiters Matthias von Hartz wird verhallen wie jedes Jahr. Das aufblasbare, begehbare weisse Rettungsboot der Berliner Künstlergruppe Plastique Fantastique beim Eingang wird bei Aussentemperaturen von über 30 Grad zur Hitze-Hölle, die man gerne umschiffte. Was doppelt zynisch wirkt, weil die Infowand daneben dieses Wegschauen thematisiert.. In Erinnerung gerufen wurde das Schicksal eines Schlauchboots, das 2011 mit 72 Geflüchteten von Libyen aus in Seenot geriet. Doch der in einer glühend heissen Baracke untergebrachten Videodokumentation des Schweizer Recherchekollektivs Border Forensics, das mit Daten zu rekonstruieren versucht, wie staatliche Akteure den Flüchtenden aktiv ihre Hilfe verweigerten, blieben die Besucherinnen und Besucher fern.

Lieber badete man im Wasser, dem Element, in dem jedes Jahr unzählige Menschen wegen unterlassener Hilfeleistung auf ihrer Flucht nach Europa ertrinken. Die Soziologin Vanessa E. Thompson ermahnte am Samstagnachmittag in einem Vortrag zu Recht, diese Schiffsunglücke doch bitte als das zu bezeichnen, was sie sind: Grenztötungen.

«One Song»: Musizieren bis zum Zusammenbruch

Bei der Festivaleröffnung am Donnerstagabend gab es jedoch zunächst Grenzüberschreitungen der harmloseren Sorte . «One Song» der niederländischen Künstlerin Miet Warlop war das bis jetzt intensivste Bühnenerlebnis. Zum strengen Takt eines Metronoms verausgabten sich fünf Musiker wie Hochleistungssportler an ihren Instrumenten. Begleitet von einer Gruppe hysterischer Fans und einer völlig übersteuerten weiblichen Kommentatorin, die Sascha Ruefer Konkurrenz machte, musizierte die Band bis zum finalen Zusammenbruch. Jeder Cellostrich eine Bauchmuskelübung, jeder Keyboard-Akkord ein Hechtsprung an der Sprossenwand. Warlop feierte Theater als Kraftakt, als kollektive Grenzüberschreitung.

Der Abend entwickelte sich aus dem präzisen Zusammenspiel zwischen Fans und Musizierenden, die zwischendurch erschöpft kollabierten. Eine präzise Metapher für die Suche nach Intensität und nach Gegenwärtigkeit im Theater, aber auch für Verschleiss und Selbstausbeutung.

Das Zürcher Theater Spektakel 2023.
Bild: Bild: Kira Kynd/ Zürcher Theater Spektakel

Fortschritt? Blanker Hohn

Eine krass gegenteilige Sogwirkung von Sound nutzten die moldawische Autorin und Regisseurin Nicoleta Esinencu und ihr Kollektiv Teatru Spalatorie für ihre «Sinfonie des Fortschritts», die ebenfalls im Zeichen der Ausbeutung steht. Ihr Stück wirkte formal wie inhaltlich wie die grosse Spielverderberin von Warlops theatraler Ekstase. Am Eingang zur kochend heissen Südbühne wurde dem Publikum am Samstagabend für die bevorstehenden 100 Minuten Wasserflaschen verteilt. Eine Grosszügigkeit, von der Arbeitsmigranten aus Osteuropa nur träumen können. Als LKW-Fahrerinnen und -Fahrer für globale Riesen wie Amazon nehmen sie eine solche Flasche zum Pinkeln mit. Streng didaktisch nach Bertolt Brecht zerlegte Esinencu mit drei Performenden in mehreren Unterkapiteln den perversen Fortschrittsbegriff des Kapitalismus. Jeden Zauber hat sie ihrem Theaterabend ausgetrieben.

Sowjetische LKW-Scheinwerfer dienen als Bühnenlicht, in dem zwei Männer und eine Frau in orangen Bauarbeiteruniformen mit speziell programmierten Baumaschinen einen ohrenbetäubenden Höllensound erzeugten und von sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen auf Landwirtschaftsfeldern und am Ende der Lieferungskette berichten. Das Publikum kam dabei gehörig ins Schwitzen.

Nicoleta Esinencus «Sinfonie des Fortschritts».
Bild: Bild: Ramin Mazur / Zürcher Theater Spektakel

Wie eine Feier der Poesie mutete nach dieser kalten Dusche die Performance des argentinischen Choreografen Juan Onofri Barbato an. Zwei kleine Nebelmaschinen – grössere Investitionen lagen bei der atemberaubend schnellen Entwertung des argentinischen Pesos nicht drin – pusteten sich in der Roten Fabrik spätabends in «Vendo humo» (auf Deutsch: «Ich verkaufe Rauch») wechselseitig mit Rauch an. Onofri weihte uns ein in die poetischen Begriffe der argentinischen Schattenwirtschaft, in die Bedeutung der Höhlen und blauen Dollars, und erzählte, wie die Hyperinflation in seinem Land sein Leben als Künstler bestimmt.

Zürcher Theater Spektakel. Bis 2.9. Programm: www.theaterspektakel.ch

Juan Onofri mit der europäischen Premiere von «Vendo Humo». 
Bild: Bild: Ignacio Yuchark / Zürcher Theater Spektakel
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