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Dichter und Intellektueller

Mit täglich geputztem Kopf und ohne Gratis-Mut: Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Er prägte das literarische Leben Deutschlands und war ein Dichter und Intellektueller ohne fixe Gewissheiten. Nun ist Hans Magnus Enzensberger mit 93 Jahren in München gestorben.

«Greift in die Tasten», forderte er Intellektuelle und Autorenkolleginnen, Kritiker und Wissenschaftlerinnen auf, um dann gleich hinzuzufügen, «greift wohin ihr wollt…» Hans Magnus Enzensberger ist in den vergangenen fast siebzig Jahren mit bestem Beispiel vorangegangen, sorgte dafür, dass selbst die zuvor so hehr und sakral behandelte Lyrik einen Gebrauchswert bekommt. Auch mit ihr lässt sich die Gegenwart besser verstehen.

Enzensbergers Denken und Schreiben, selbst wenn er zornig war, zeichnet sich durch Leichtigkeit aus. 
Bild: Keystone

Enzensberger prägte jahrzehntelang jede Form von oppositionellem und avantgardistischem Denken und Schreiben in Deutschland, war meist einen Schritt schneller, weiter, vifer als andere Literaten. Das trug ihm neben Ehre auch Feindschaft ein. Der Philosoph Jürgen Habermas schimpfte ihn einen Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre, ohne zu merken, dass sich Enzensberger immer lieber als anarchischer Hofnarr statt als intellektueller Dominator sah.

Sein Denken und Schreiben, selbst wenn er zornig war, zeichnet sich durch eine Leichtigkeit aus, die sich allem Bedeutungsschweren, Verbohrten, Tranigen und Zähen entgegenstellt. Sein Dichterkollege Peter Rühmkorf bezeichnete ihn deshalb einmal als «Luftwesen», doch eines, das sich gern mit konkreten Instanzen anlegt. Einer der zerfledderten Essaybände in meinem Regal heisst «Einzelheiten I, Bewusstseins-Industrie» und seziert unter anderem die Sprache des Magazins «Der Spiegel».

Einer, der sich nicht fassen lässt

Enzensberger lässt sich kaum fassen. Er provozierte, wo man es nicht erwartete, und hielt sich zurück, wo die Gesinnungsgenossen mit seinem Engagement rechneten. Ihm missfiel das ewige Reden über die «deutsche Frage», dafür entdeckte er früh die Länder, die man damals als «Dritte Welt» bezeichnete, lobte das vielgescholtene Kleinbürgertum und verwarf den Pazifismus.

In den Fünfzigerjahren trat er unübersehbar in Erscheinung, als Zeitkritiker, Essayist, Dozent, vor allem als Lyriker. 1957 veröffentlichte er seinen Gedichtband «Verteidigung der Wölfe» mit wegweisenden Versen gleich zu Beginn: «Meine Weisheit ist eine Binse / Schneide dich in den Finger damit».

Da schreibt kein eitler Allwissender, der einer oft als dumpf hingestellten deutschen Öffentlichkeit beibringen will, was sie zu denken hat. Früh schon wehrte sich Enzensberger gegen die intellektuellen «Teppichklopfer», die nur belehren wollen. Stattdessen versuchte er mit «täglich geputztem Kopf» durch die Welt zu gehen.

Seine linke Zeitschrift «Kursbuch» spürte jede Form von künstlerischer und politischer Revolte auf und bestimmte auch den Kurs der Studentenbewegung in den Sechzigerjahren. In einer berühmt gewordenen Nummer verkündete Enzensberger den «Tod der Literatur». Eine andere Nummer widmete sich dem «Revolutions-Tourismus», und ein solcher Tourist war Enzensberger selbst gewesen, idealistisch hatte er Castros Kuba oder Chruschtschows Sowjetunion oder auch Leitamerika bereist.

Das erschien manchem Zeitgenossen als inkonsequent. Und was tat Enzensberger? Er schrieb Anfang der Achtzigerjahre den Essay «Ende der Konsequenz», in dem er davor warnte, ein Denken stur voranzutreiben: «Wo Konsequenz nur um den Preis der Barbarei oder der Selbstverstümmelung zu haben ist, kommt sie mir als ein verabscheuungswürdiger Anachronismus vor.»

Enzensberger intervenierte gerne

Immer wieder setzte sich Enzensberger aus. In «Schreckens Männer» stellte er sich 2006 die Frage, was Amokläufer und Selbstmordattentäter verbindet, und analysierte die destruktive Energie radikaler Verlierer und Zukurzgekommener. Ein Cocktail aus Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen, Männlichkeits- und Grössenwahn, Rach- und Todessucht führe dazu, dass aus einem normalen Versager ein radikaler Verlierer werde. Hier zeigt sich, dass Enzensberger leidenschaftlich gern intervenierte, aber ohne intellektuelles Märtyrertum. Im Gegenteil, er hatte einst die Formulierung vom «Gratis-Mut» gefunden und darauf gepocht, dass man sich als Schreibender nicht zu ernst und heroisch nehmen soll.

Enzensberger war weit mehr als nur ein Autor. Er war auch ein fulminanter Leser und Bücherscout, hat etwa Autoren wie Christoph Ransmayer, Irene Dische und W.G. Sebald entdeckt und in der wunderbaren «Anderen Bibliothek» herausgebracht. Die Formel vom «Tod der Literatur» war im Übrigen nicht ganz ernst gemeint. Enzensberger verabschiedete nur eine allzu feierlich harmlose Dichtung und plädierte für eine Literatur, die «nicht gerechtfertigt» werden kann und «ohne Gewissheiten» auskommt. Hans Magnus ist am Donnerstag mit 93 Jahren in München gestorben.

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