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11. September

Inszenierung der Angst: Wie nach 9/11 ein neues Filmgenre entstand – und warum sich die Aufarbeitung im Kreis dreht

9/11 prägte die letzten 20 Jahre im Film. Und der Film prägte unser Verständnis davon. Dabei sah es aller Anfang überhaupt nicht danach aus.
Filme über 9/11 sind ein Hochseilakt. Wie «The Walk» (2015), der die Geschichte eines französischen Seiltänzers  Philippe Petit erzählt, der sein Seil 1974 zwischen den Twin Towers spannte. Damals war das World Trade Center noch im Bau.
Bild: Bild: Alarmy

Der Film «Buffalo Soldiers» landete wegen 9/11 im Giftschrank der Geschichte. Und das, obwohl er sich weder um das World Trade Center noch um eine Flugzeugentführung drehte. Er handelt von drogenabhängigen Soldaten der US-Army und feierte im September 2001 Premiere. In der Nacht des 10. September sicherte sich Miramax als Höchstbietender die Filmrechte. Chef war damals noch der später in Ungnade gefallene Harvey Weinstein.

Wenige Stunden später, am Morgen des 11. September, lenkten Terroristen Flugzeuge in die Twin Towers des World Trade Centers in New York und ins Pentagon in Washington und töteten fast 3000 Menschen.

So wenig brauchte es, Opfer der Selbstzensur zu werden

Es war, als wäre nicht nur New York von einer grausamen Plage heimgesucht, sondern gleichzeitig Hollywood wie von einer selbst geschaffenen Realität überholt worden. Regisseure wie Roland Emmerich hatten die Katastrophe vorweggenommen, als Aliens in ihren Filmen die Twin Towers in sich zusammenstürzen liessen.

Filmstarts wurden verschoben, an fertigen Filmen wurde herumgeschnitten. So auch bei Miramax’ «Buffalo Soldiers», wie im Buch «The War on Terror and American Film» von Terence McSweeney nachzulesen ist. Regisseur Gregor Jordan blieb später, nachdem sein Film doch noch veröffentlicht worden war, nur noch diese zynische Bemerkung übrig:

«Das Timing für einen Film über drogenabhängige amerikanische Soldaten war nach 9/11 wahrscheinlich nicht so gut. Als er schliesslich ins Kino kam, wurde er praktisch die Toilette hinuntergespült – auf zwei Leinwänden und ohne Werbung.»

Unnötig zu sagen, was mit Filmen passierte, die Flugzeugentführungen, zusammenkrachende Hochhäuser oder den islamistischen Terror zum Thema hatten.

Mit 9/11 hatte das klassische Fernsehen so etwas wie einen letzten Höhepunkt, ehe die Digitalisierung Streaming vorantrieb. Die Anschläge verfolgten wir im linearen Fernsehen, kollektiv vor den Bildschirmen. Fassungslos schauten wir zu, wie die Türme in sich zusammenbrachen. Der arabische Frühling zehn Jahre später und die Terroranschläge von Paris 2015 verfolgten wir bereits auf unseren Smartphone-Bildschirmen, allein, aber im Fall des Bataclan genauso fassungslos. Es waren Ereignisse, die sich auf Social-Media und Livefeeds abspielten.

Wie aber reagierte das Kino auf das Ereignis 9/11, das mehr für einen Wendepunkt der Geschichte denn für ein exaktes Datum steht? Vorerst gar nicht respektive mit Selbstzensur. Es dauerte einige Jahre, bis sich amerikanische Regisseure an den Stoff wagten.

«Eine unschuldige Nation wird aus heiterem Himmel angegriffen»

Erst 2006 nahm sich ein wirklich grosser Name den Stoff vor, ganz in Hollywood-Manier. In seinem Film «World Trade Center» erzählte Oliver Stone das Heldenepos unter den Trümmern des World Trade Centers lebendig begrabener Polizisten, ganz im Einklang stehend mit dem Zeitgeist der Post-9/11-Ära in Amerika.

Amerikas kollektives Verständnis von 9/11 lag in einem «abscheulichen und überhaupt nicht provozierten Angriff auf eine tugendhafte und unbescholtene Nation, ein Angriff, der unmöglich vorauszusehen war», wie Terence McSweeney in seinem Buch schreibt. Filme wie ­Stones WTC stehen ganz im Dienste dieser Logik. Im Film kommen die Angriffe aus heiter hellem Himmel und treffen ein Land, das so etwas für niemals möglich gehalten hätte. Doch die New Yorker stehen in der Katastrophe zusammen. Nach seiner Rettung aus den Trümmern sagt der überlebende Polizeikommandant John McLoughlin (Nicolas Cage):

«9/11 zeigte uns, wozu Menschen fähig sind. Das Böse, yeah, freilich. Aber es brachte auch das Gute im Menschen zum Vorschein, wovon wir glaubten, es existiere nicht.»

Eine Erzählweise, die sich bis heute hält und sich auch in all den Dokumentationen anlässlich des 20. Jahrestags eindrücklich zeigt (es scheint fast, als sei das Schweizer Fernsehen der einzige Sender weltweit, der nicht eine eigene Dokumentation über 9/11 vorbereitet hat).

Alle Politiker, Augenzeugen und Überlebende sprechen sie von der Plötzlichkeit des Ereignisses, sinnbildlich dafür steht die vielleicht am häufigsten geäusserte Erinnerung an den Morgen des 11. Septembers 2001: «Es war ein so schöner Spätsommertag, blauer Himmel, klare Luft.» Das Böse traf auf die Unschuld.

Eine andere Erzählweise muss man zuerst einmal suchen

In 20 Jahren hat sich viel getan in der Film- und Fernsehwelt. 2001 war immer noch das Zeitalter des linearen Fernsehens, in derselben Zeit begann sich aber im filmischen Bereich bereits ein neues Serienformat durchzusetzen, von der Serie fürs Kabelfernsehen hin zur Serie fürs Bezahlfernsehen.

Und so ist es der amerikanische Bezahlsender HBO, bekannt für seine Serien wie «The Sopranos», oder «The Wire», der dem ikonenhaftesten New Yorker Filmemacher überhaupt, ­Spike Lee, den Auftrag einer Serie, 20 Jahre nach 9/11 gegeben hat. Sie beschreibt viel eher ein Gefühl, in dessen Hintergrund man den Schrecken von 9/11 weiss. Und gehört damit eher in eine Tradition von 9/11-Filmen, von denen es leider gar nicht so viele gibt.

Dazu gehört «11’’09’01 – September 11», episodenhaft erzählt von Filmemachern rund um den Globus. Ansonsten, und das zeigen aufwendige Serien wie «Homeland» bis hin zu den Produktionen des 20. Jahrestags, steht die Verarbeitung von 9/11 noch immer am Anfang.

Aber auch Serien wie «Homeland» sind ohne 9/11 natürlich nicht denkbar. Guantanamo, Abu Ghraib, Drohnenkrieg, Söldner, Islamischer Staat – die Liste der Schlagworte im Nachgang zu 9/11 ist beliebig erweiterbar. Allesamt stehen sie für Inspiration von Kino und Serien. Und die allermeisten Beispiele, sei es «Homeland» oder «American Sniper» von Clint Eastwood, sind doch nichts weiter als die Spiegelung eines Angstgefühls in Amerika und des Kriegs gegen den Terror ohne einen längerfristigen Plan. Eine Aufarbeitung, die sich ein wenig im Kreis dreht.

Fast, als steckten wir nach wie vor am Tag des 11. Septembers 2001, stünden an einem Schaufenster und blickten gebannt auf einen Bildschirm, auf dem CNN in Endlosschlaufe die immer wiederkehrenden Bilder der Flugzeuge, Türme und der Staubwolke zeigt.

Ich persönlich kriege neben diesen Bildern den einen Satz eines Freundes am selben Tag nicht aus dem Kopf. «Das haben sie nicht verdient», sagte er. Darin enthalten ist genauso der Schock wie die Klarheit darüber, dass sich die USA, als damals noch klarer Welthegemon, natürlich Schuld auf sich geladen und sich ärgste Feinde gemacht hatten.

Der Satz brachte damals schon mehr Analyse mit sich, als es die meisten Filme über 9/11 bis heute, besonders zum 20. Jahrestag tun. Gut möglich, dass vielsagendere Werke im selben Giftschrank wie die Gesellschaftskritik «Buffalo Soldiers» gelandet sind.

Buch- und Filmtipps zu 9/11

Roman: «Falling Man»

Das Foto jenes Mannes, der sich kopfüber wie ein Turmspringer aus einem der brennenden Twin Towers stürzt, gibt das traumatische Bild ab für diesen vielstimmigen Roman. Es ist zugleich Metapher für das bedrohte Leben im Stillstand. Abwechselnd erzählt DeLillo aus der Per­spektive eines Überlebenden mit Glassplittern im Körper, seiner Ex-Frau, zu der er flüchtet, eines jungen Terroristen vor dem Attentat und eines Performancekünstlers, der sich danach kopfüber an New Yorker Hochhäuser hängt. (hak)

Don DeLillo: Falling Man . Roman. Kiwi, 266 S.

Roman: «Extrem laut und unglaublich nah»

Dieser Roman liefert Verstörung auf allen Ebenen: Der neunjährige Oskar (ein Wiedergänger von Grass’ «Die Blechtrommel») läuft auf der Suche nach Spuren seines in den Twin Towers verschütteten Vaters mit seinem Tamburin durch New York nach 9/11. Foer verbindet Oskars surreale Odyssee mit den Bombennächten in Dresden im Zweiten Weltkrieg. Ein riskanter Vergleich, der aber die subjektive Erfahrung mit der traumatischen Sinnlosigkeit des Todes konsequent geltend macht und richtigerweise Antworten offen lässt. (hak)

Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah . Kiwi, 432 S.

Comicroman: «9/11. Ein Tag, der die Welt veränderte»

9/11 als Comicroman? Die Perspektive der Französin Juliette nimmt die europäische Sicht auf und macht das Geschehen auch für ein junges Lesepublikum einladend. 20 Jahre nach dem Attentat, das sie als Jugendliche am TV sah, reist sie nach New York. Dokumentarisch wie identifikatorisch, aber nie reisserisch, wird von eingeschlossenen Opfern und Helfern erzählt. Überzeugend geschildert ist die Nachgeschichte mit Irakkrieg, Afghanistan und den Terroranschlägen in Europa. (hak)

Baptiste Bouthier, Héloise Chochois: 9/11. Ein Tag, der die Welt veränderte . Knesebeck, 143 S.

Serie: «Homeland»

Sie ist so etwas wie das Gesicht des Kriegs gegen den Terror, den Amerika nach 9/11 vom Zaun brach. Die CIA-Agentin Carrie Mathison (gespielt von Claire Danes) leidet an einer bipolaren Störung und kämpft in der Serie «Homeland» gegen abtrünnige GIs, böse Islamisten und ihre eigenen Geister. Um diese Serie kam fast nicht herum, wer sich im vergangenen Jahrzehnt für Filmstoff zu den US-Feldzügen gegen den Terror interessierte. Mit Drehorten rund um den Globus, sorgte dies hie und da auch für politische Misstöne. (dfu)

«Homeland» (USA 2011–2020), 8  Staffeln, div. VoD-Anbieter.

Filme «The Hurt Locker» und «Zero Dark Thirty»

Die besten Krieg-gegen-den-Terror-Filme stammen von Kathryn Bigelow. Sehr einprägsam ist etwa die Einstiegsequenz bei «The Hurt Locker» mit den Bombenentschärfern in der staubigen Strasse irgendwo im Irak (siehe Bild). Dafür gab es für Bigelow sechs Oscar, darunter denjenigen für den besten Film – das erste Mal überhaupt für einen Film von einer Frau. Fast ebenso stark ist ihr zweiter Film desselben Genres «Zero Dark Thirty» über die Mission, die zur Tötung Osama bin Ladens führte. (dfu)

«The Hurt Locker» (2008) und «Zero Dark Thirty» (2012), bei Netflix und im VoD.

Doku-Serie «Turning Point – 9/11 and the War on Terror»

Eine jener aktuellen Dokumentationen zum Thema anlässlich von 20 Jahren 9/11. Für Netflix produziert, bietet «Turning Point – 9/11 and the War on Terror» einen umfassenden Überblick über die Geschehnisse. Natürlich fehlen die einstürzenden Türme genauso wenig wie die herzzerreissenden letzten Funksprüche der Piloten. Die fünfteilige Dokuserie wirft aber auch einen Blick in die Geschichte und bettet die Angriffe von 2001 in die Geschichte Afghanistans ein, was die Serie besonders aktuell erscheinen lässt. (dfu)

«Turning Point – 9/11 and the War on Terror» (2021), 5 Folgen, Netflix.

Film «United 93»

Viel improvisieren musste ein weitgehend unbekanntes Cast für «United 93» von Paul Greengrass (bekannt für die «Bourne»-Filmreihe mit Matt Damon). Der Film thematisiert auf authentische Weise die wahren Ereignisse, die sich an Bord von Flug UA 93 abspielten, ehe die entführte Maschine am 11. September 2001 in einem Feld im Bundesstaat Pennsylvania abstürzte. UA 93 war der vierte der von 9/11-Terroristen gekaperten Flüge. Die Passagiere wehrten sich und sorgten für den Absturz im unbewohnten Gebiet. (dfu)

«United 93» (USA 2006); diverse VoD-Anbieter.

Bild: Bild: Eric Draper

Dokumentarfilm «Inside the President’s War Room»

George W. Bush war das Gesicht des US-Kriegs gegen den Terror. Als US-Präsident erfuhr Bush während eines Besuchs in einer Primarschule vom Angriff aufs World Trade Center. Die TV-Aufnahmen des nachdenklichen Präsidenten im Klassenzimmer, nachdem er erfährt, dass ein zweites Flugzeug in Turm 2 geflogen ist, sind ikonisch. Die Co-Produktion zwischen der BBC und Apple «Inside the President’s War Room» thematisiert vor allem die Entscheide rund um den Präsidenten und lässt diesen 20 Jahre danach zu Wort kommen. (dfu)

«Inside the President’s War Room» (2021), bei Apple TV+.

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