notifications
Kolumne

«Glamour, mon amour»: Der Märchenerzähler und die Hitze

Unsere Kolumnistin wandte einen Trick aus der Psychologie an, um die müdemachende Sommerhitze auszuhalten - mit Erfolg.
Wenn man bei heissen Temperaturen Winterbücher liest, fühlt sich die Umgebung angenehmer an.
Bild: Bild: Elena Ringo/Wikimedia

Müssen Sie sich auch zu allem aufraffen und überreden, wenn es heiss ist? Bei mir beginnen die Probleme bei 30 Grad und etwa bei 36 Grad hören sie wieder auf, denn da geht eh so gut wie nichts mehr. Ein Trick sei, habe ich gehört, sich bei besonders heissen Temperaturen besonders kalte Dinge vorzustellen.

Also alles von eisigem Wetter bis zu kalten Gefühlen. Gletscherlandschaften ohne Ausweg, Eiskristalle auf den Bäumen und Sträuchern vor den Fenstern, Schnee auf der Wiese, und zu trinken gibt es nichts als Eiszapfen, die im Mund langsam zu etwas Wasser schmelzen. Und das Schlimmste: Sie sind allein. Um Sie nur Kälte und Stille, der Fluss, an dem Sie im Sommer mit Tausenden gebadet haben, schiebt jetzt leise ächzend schartige Eisschollen vor sich her, Sie spüren, wie Ihre eigene Körperwärme dahinschwindet, bald wird das Blut in Ihren Adern nicht nur metaphorisch gefrieren.

Na? Nützt die autosuggestive Abkühlungsmassnahme schon? Ich habe mich neulich dafür an den Märchenerzähler meines Vertrauens gewandt, an den Dänen Hans Christian Andersen. Ich bin der Meinung, dass er für jede Lebenslage das beste Märchen geschrieben hat, wenn es etwa um die Tragödie einer unerwiderten Liebe geht, gibt es nichts, was «Die kleine Meerjungfrau» übertrifft. Und kaum eine andere Geschichte beschreibt die tumultuöse Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein so gut wie das Märchen von der Schneekönigin.

Erinnern Sie sich? Zwei Nachbarskinder, die sich wie Geschwister lieben, verlieren einander, weil der Knabe sich von der verführerischen, wunderschönen Schneekönigin entführen lässt. Sie blendet ihn und vereist sein Herz, er ist ihr hörig und vegetiert mehr dekorativ als aktiv in ihrem Palast dahin.

Das Mädchen verbringt Jahre damit, ihn zu suchen, besteht Abenteuer und reist durch die halbe Welt, und schliesslich findet sie ihn in einem Palast aus Schnee und voll schneidender Winde. Er ist ganz blau vor Kälte, da beweint sie ihn, und das Eis in seinem Herzen schmilzt, und dann küsst sie ihn über und über und alles gute, junge, blühende, glühende Leben kehrt in ihn zurück und sie kehren heim als Paar, «erwachsen und doch Kinder – Kinder im Herzen». Ich las das Märchen an einem süttig heissen Tag, ich liess mich durch Andersens skandinavische Landschaften und Figuren treiben, amüsierte mich und wurde melancholisch und konnte nicht fassen, wie fies diese Schneekönigin ist, die einmal ihr Schloss verlässt, um reifende «Citronen und Weintrauben» zu verderben.

Ich war also wunderbar von der Hitze abgelenkt. Doch dann kam der letzte Satz. Gut, ich wusste, das Eis war geschmolzen, der Knabe war erlöst, jetzt musste irgendwas Nettes passieren, ich dachte an einen milden Frühling, doch das Märchen von der Schneekönigin endete mit den Worten: «Und es war Sommer, warmer, wohltuender Sommer.» Und da war sie wieder. Die Sonnenkönigin. Und mit ihr die brütende, wütende Hitze.

Kommentare (0)