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Schweizer Literatur

Gertrud Leutenegger sagt, warum ihre Romane oft rätselhaft sind

Die Grande Dame der Schweizer Literatur gibt in ihrem neuen Buch «Partita» einen intimen Einblick in ihr Schreiben und sagt im Gespräch: «Meine Notate sind Sätze, die ich eingenäht habe in den Saum meines Bewusstseins.»

Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger.
Bild: Bild: Ayse Yavas / KEYSTONE

Sie sind rätselhaft, die Titel von Gertrud Leuteneggers Büchern: «Ninive», «Komm ins Schiff», «Acheron», poetische Muster zu Leben, Liebe und Tod, nicht zu vergessen die zwei Bücher des Abschieds, «Pomona» und «Späte Gäste». Man muss sie immer wieder lesen und entdeckt sie jedes Mal neu, und zuletzt erscheinen sie einem wie eine einzige grosse, die Höhen und Tiefen des Daseins in ein unverwechselbares Licht tauchende Erzählung: «Eine einzige grosse Fuge, ohne Konzession», wie einer der Texte es im jüngsten Buch der Autorin andeutet. Es heisst «Partita», ist weder Roman noch Gedicht, sondern eine Sammlung von 77 ein- bis vierzeiligen Notaten ohne einen Namen oder Titel, ohne Hinweis auf ein Werk. Und doch sind alle mitbedacht in diesen auf das Wesentliche verknappten, weniger argumentativ dozierenden als bild- und traumhaft daherkommenden Texten.

Ihre schwarzen Wachstuchhefte sind poetische Schatztruhen

Die Notate seien ganz beiläufig während ihrer Schreibarbeit entstanden, sagt Gertrud Leutenegger: «Ich habe meine schwarzen Wachstuchhefte, in die ich neben dem Schreiben manchmal Bilder einklebe oder wo ich kurze Sätze formuliere, um einen möglichen Weg wie mit einem Blitzlicht zu beleuchten. In ‹Partita› folgen die Notate nicht einer Chronologie.» Und sie fährt fort: «Ich habe alle auf einem grossen Tisch ausgelegt und umhergeschoben, als wären es Spielfiguren, die sich nun gegenseitig ansehen und ineinander spiegeln.»

Da finden sich, wenn auch mit überraschenden Resultaten, durchaus dichtungstheoretische Ansätze. Der Satz «durch die Konstellation, das Zusammenklingen der Teile, die verlorene Musik zum Vibrieren bringen» etwa, sagt auf anrührende Weise etwas zum Verhältnis von Form und Inhalt aus. Wie aus Irritation und Orientierungslosigkeit Poesie resultieren kann, deutet die folgende Erkenntnis an, die etwas für Gertrud Leuteneggers Schreiben absolut Zentrales verrät:

«Kein Gegenstand, keine Realität ist gesichert. Daher das Schwebende, Fragende, Sphärische.»

Unüberhörbar ist aber auch der Verweis auf die existenzielle Dimension, die hinter Gertrud Leuteneggers Schreiben steht und die in den publizierten Texten selbst ja höchstens erahnbar ist. «Im innersten Wirbel des Glücks, des Schmerzes schreiben», beginnt der erste Satz von «Partita». Eine Ambivalenz, die in vielen anderen Notaten weiter vertieft wird. Etwa wenn es heisst: «Mein Anfang stand ganz im Glanz des Augenblicks», wenn das Schreiben «ein fremdes, unfassliches Wunder ins Auge fasst», oder aber der Schmerz aus Zeilen spricht wie «Aus Hoffnungslosigkeit heraus arbeiten» bzw. «Unter Tränen zum Leben verführen».

Das erste Notat hat aber noch einen zweiten Teil, und der lautet, wieder auf das Schreiben bezogen: «Und doch ganz leicht, befreit, als wären die Schleusen geöffnet.» Da ist es nochmals, das «Schwebende, Fragende, Sphärische», das beim Lesen von Gertrud Leuteneggers Texten immer wieder neu entzückt und dessen Geheimnis ein wenig gelüftet ist, wenn es in Notat 71 heisst: «Dem Äussersten entlangschreiben, doch seiltänzerisch sicher.»

Beim Wiederlesen kommt Leutenegger der Philosoph Blaise Pascal in den Sinn: «Von Pascal ist ein Zettel überliefert, den er in sein Rockfutter eingenäht hatte. Er trägt den Titel ‹Feuer› und hält in wenigen abgerissenen Sätzen eine Nacht des inneren Feuers fest. Auch meine Notate sind Sätze, die ich eingenäht habe in den Saum meines Bewusstseins.» Auf die Frage, wie diese Notate ihren Weg als Schriftstellerin dokumentieren, sagt sie: «Seit je ist mein Schreiben von Festzeiten und Fastenzeiten rhythmisiert: Festzeit ist, wenn ich arbeiten kann; Fastenzeit ist, wenn ich warten muss. Für so viele Jahre sind es erstaunlich wenig Notate, nicht? Das Widerspiel von Fülle und Entbehrung ist auch in ihnen erkennbar. Es erfordert Kraft, nicht zu schreiben.»

Über das Literarische hinaus bedeutsam

Wer Gertrud Leuteneggers Werk kennt, bewegt sich, ohne es jedes Mal konkret bestätigen zu können, in vertrautem Gelände, ja er bekommt, gerade weil ihm Bilder, Emotionen, Traumhaftes und Rätselhaftes statt Argumente und konkrete Fakten vermittelt werden, eine Ahnung von den verborgensten Antrieben und Motivationen ihres Schreibens. Wer die Notate in Unkenntnis ihres Werks liest, hat aber nicht weniger, sondern vielleicht sogar grösseren Gewinn. Gerade, weil sie nicht hingeschrieben sind, um aphoristisch zu glänzen, sondern Satz für Satz aus dem Entstehungsprozess von dichterischen Texten abgeleitet ist, haftet ihnen, auch wenn sie dem Unvoreingenommenen noch rätselhafter als dem Kenner erscheinen mögen, etwas ganz Besonderes, Unverwechselbares an. So enthält etwa das Notat 61, «Die Glut der Ahnung. Denn noch erkenne ich nicht. Aber mein Gefühl weiss», eine weit über das literarisch Bedeutsame hinausreichende Erkenntnis oder vermittelt Nr. 45, «Aus meinen Schmerzen ein Fest machen», eine Aufmunterung, die so nur weitergeben kann, wer die Abgründe des Leidens kennen gelernt hat: «Existieren und Schreiben: Ist es nicht ein und dasselbe?», meint sie nachdenklich. «Es braucht vielleicht eine gewisse Unerschrockenheit, etwas zu veröffentlichen, was so gar nicht erwartbar ist, sich zu keinem dieser Ansinnen äussert, die oft an die Literatur gerichtet werden. Die Welt in Aufruhr reisst unsere Aufmerksamkeit nach allen Seiten. In diesen Notaten lebt das Verlangen nach einem Gespräch mit dem Grund unseres Daseins.»

Gertrud Leutenegger: Partita. Notate. Nimbus, 84 Seiten.

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