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Literatur

Ein Roman, der erzählt, wie Untreue in die Befreiung führt

In «Freie Liebe» erzählt die Britin Tessa Hadley die Geschichte einer Frau, die im England des Jahres 1967 Untreue begeht – und darüber ihre wahre Bestimmung findet.

Tessa Hadley.
Bild: Bild: Mark Vessey

Mit Romanen wie «Hin und zurück» (dt. 2011), «Damals» (2015) und zuletzt «Zwei und zwei» (2019) erschrieb sich die aus dem englischen Bristol stammende Tessa Hadley auch in unseren Breiten eine treue Lesergemeinde, wobei die überwiegende Zahl ihrer Fans weiblich ist. Dabei repräsentiert Hadley, die unter dem Titel «Freie Liebe» nun im Zürcher Kampa Verlag ihren insgesamt achten Roman vorgelegt hat, mit ihren Arbeiten jene gehobene Form der Unterhaltungsliteratur, die wie gemacht ist für das sogenannte «Grosse Publikum» bedienende TV-Adaptionen zur Primetime. Tatsächlich nämlich besitzt die inzwischen 66-jährige Autorin ein feines Gespür für die Lektüre-Wünsche ihrer weiblichen Leserschaft, wie auch ihr neuster Roman beweist.

«So hatte sie noch nie einer geküsst»

Denn die Geschichte der wohlsituierten Phyllis Fischer, die sich im England des Jahres 1967 kurzerhand dem zwanzigjährigen Nicky hingibt, und gemeinsam mit ihm aus ihrer längst in den bekannten Routinen erstarrten Ehe ausbricht, und ihre beiden Kinder verlässt – um sich den neuen Geist des «Swinging London» um die Nase wehen zu lassen, bedient das uralte Thema «Untreue» durchaus gekonnt. «Phyllis glaubte bereits, dass Nicky ihr Liebhaber war oder werden würde. So hatte sie noch nie einer geküsst. Und noch während sie Nicky küsste, war diese Version der Geschichte in ihrem Kopf abgelaufen: Jetzt war ihr so, als habe sie all die Jahre darauf gewartet, ihm zu begegnen.»

Bekanntlich ist das Narrativ «Ältere Frau liebt jüngeren Mann und setzt für ihn ihre Ehe aufs Spiel» nicht eben neu – weder in der Literatur noch im Film, lieferte bereits 1968 Mike Nichols` längst zum Klassiker avancierter Film «Die Reifeprüfung» eine erste, zeitlose cineastische Spielart des Stoffs, so gewann auch Sam Mendes dem Thema mit seinem Film «American Beauty» 1999 gewisse neue Einsichten ab. Und was die Literaturgeschichte angeht, so ist sie überreich an Variationen zum Thema.

Man begleitet Phyllis' Ausbruch aus den eingefrorenen Ehe-Konversationen

Gleichwohl ist Hadley, die eine sinnliche, bildhafte Prosa schreibt und mehr mit ihren Plots anstrebt, als die blosse Wiedergabe des Altbekannten, literarisch am stärksten, wenn sie mit ihren schlanken Sätzen in ihre Figuren hineinhorcht wie ein Arzt mit seinem Stethoskop in seine Patienten. Dann gewinnen ihre bisweilen nah am Kitsch siedelnden Wendungen plötzlich Prägnanz und eine Dichte, die an die frühen Stories ihres Landsmannes Richard Yates erinnern, der sich als Meister psychologisch-literarischer Untersuchungen erwies. Und man folgt ihr, wenn sie über ihre Protagonistin Phyllis schreibt: ««Eigentlich war sie ganz einfach, ein einfacher Mensch, leicht glücklich zu machen, froh, wenn sie andere glücklich machen konnte. Sie war lange mit ihrem Leben zufrieden: Es war das Jahr 1967.»

So begleitet man Phyllis` Ausbruch aus den «eingefrorenen Konversationen», die sie allabendlich mit ihrem Mann Roger, einem Mitarbeiter des Auaaenministeriums führen muss, mit Interesse. Denn Hadley versteht es gekonnt, den wiedererwachten Lebenshunger ihrer Hauptfigur glaubhaft zu bebildern. Entsprechend lässt man sich mit ihr lustvoll durch das «Swinging London» jenes Jahres treiben, in dem historische Ereignisse wie Rassenunruhen in Detroit oder der in Biafra beginnende Krieg bloaae Randnotizen sind. Alles wirkt leicht - und Phyllis scheint an Nicklys Seite endlich im richtigen Leben angekommen zu sein. Dass sie gleichwohl einen hohen Preis für ihren Weggang von Mann und Kindern zu zahlen hat, das verschweigt Hadley ihren Lesern nicht.

So sehen wir Phyllis` geglückter Häutung von der in ihrer Ehe gefangenen Frau zur weltaufsaugenden Selbsterfinderin bis zum Schluss gerne zu. Denn wie Hadley es zu zeigen vermag, dass neben dem einen scheinbar vorgezeichneten Leben immer auch andere Möglichkeiten existieren, die ergriffen werden können, sofern wir den Mut dazu besitzen, das verleiht ihrer Geschichte abschliessend Tiefe und Ernst.

Tessa Hadley: «Freie Liebe». Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kampa Verlag, Zürich 2022. 378 Seiten.

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