Lyrik unter der Lupe

Ein Dorf wird besungen – und ausgelöscht

Wer als globalisierter Mensch immer noch dem Dorfidyll nachtrauert, der nehme Plinio Martinis Gedichtband «Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse» in die Tessinferien mit. Der hat es in sich. 
Für Plinio Martinis lyrisches Ich bedeuten Tessiner Dörfer nicht nur heile Welt. Sie wecken in ihm Zerstörungsfantasien. 
Foto: Francesca Agosta / KEYSTONE/TI-PRESS

«Dorf / immer gleich für den Blick / wie der Atem natürlich». Mit dieser Anrufung beginnt Plinio Martinis Gedicht «Dorf», und mit dem gleichnamigen Gedichtband von 1951 auch sein publiziertes Werk. Hier, gleichsam in stabilem Naturzustand, ist das lyrische Ich aufgewachsen, wie eine Schwalbe «eingewickelt in einem / massgeschneiderten Nest», das trauliche Wärme und mütterliche Sorge bietet. Ordnung schafft klangvoll das Geläut, auf das man gerne hört. «hier / zeichnen die Glocken die Stunden / erwecken am Morgen Ofengerüche / am Abend löschen sie Kindergeschrei». Welch Idyll. So möchte man leben, und schliesslich sterben. «hier / wartet man auf den Tod / so wie die Chrysantheme / beim letzten Regenguss von sich aus verblüht».

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