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Bühne

Dieses süsse Gift Beziehung – in Bern müssen Kuschelsöhne an die Mutterbrust  

An den Bühnen Bern wird Nahrhaftes geboten. Die Lebenslügen von Ibsen haben einen Nachfolger in Arne Lygre. Sein Stück «Zeit für Freude» ist ähnlich gallig wie dessen Dramen, doch unterhaltsamer.
Skandinavischer Kopfschmuck aus Blumen, unter den Händen Brotteig (von links): Jeanne Davos, Linus Schütz, Hans-Caspar Gattiker, Genet Begay.
Bild: Bild: Yoshiko Kusno

Wer’s noch nicht wusste, weiss es jetzt. Ein Theater ist auch eine Bäckerei! Für Bern zumal stimmt das und stimmt so stimmig, dass man das Haus zum Bäcker des Vertrauens wählte. Die Bühnen Bern liefern ab sofort frisches Brot. Kein Witz, sondern handgeknetet und ofenwarm. Kunst, metaphorisch verstanden, ist ein Überlebensmittel.

In den Vidmarhallen gibt’s sogar Brot in echt. An der Schweizer Erstaufführung des Stücks von Arne Lygre, ein Sohn von Henrik Ibsen – acht Personen sehnen sich nach Nähe –, stehen am Ende 16 Backöfen auf der Bühne. Das Ensemble von «Zeit für Freude» fischt aus den Brutkästen freudige Ereignisse: zahllose Brötchen zur Speisung des Publikums. Ein Abendmahl ohne Wein, dafür mit gesalzenem Brot, gemeinsam essen stellt Nähe her. Arne Lygres neustes Drama wurde in Oslo heiss gefeiert, in Paris umjubelt und erst im Oktober in Oberhaus in Deutsch erstaufgeführt. Bern war schnell, Bern ist vif – und nimmt die Idee des Theaters als Beziehungs-Coach oder Beziehungs-Couch wörtlich.

Gemeinschaft ist ein starkes Gift

Jenseits der Brotteiges, den die Nachwuchsregisseurin Mina Salehpour für ihren Einstand in Bern und ihre Erstaufführung liebevoll kneten lässt, geht in den zwei pausenlosen Stunden auch das Stück auf: Als tieftrauriges, herzergreifend lustiges Konversationstheater über das süsse Versprechen, das in der Gemeinschaft liegt.

Ein «Ich»/«der Sohn» der einzige mit Namen, Axle/David (Kilian Land), eine «Mutter» (Susanne-Marie Wrage), eine «Schwester» (Yohanna Schwertfeger); insgesamt acht Archetypen treffen sich am Rand eines imaginären Friedhofes auf einer Bank. Die Mutter erwartet ihre Kinder, Wrage: brandneurotisch und mit passiver Aggressivität, Schwerfeger: verletzt und souverän traurig. Die beiden Frauen versuchen, Nähe herzustellen, missverstehen sich wechselseitig – und versichern sich doch immer wieder, dass nun «Zeit für Freude» sei. Dann taucht Sohn Axle auf, teilt mit, er sei des Lebens überdrüssig und werde für «eine Weile verschwinden». Zurück bleibt eine entsetzte Familie.

Mutter-Furien und Mutter-Söhnchen

Dieselben Figuren treten nachts bei einer Geburtstagsparty wieder auf, in derselben Funktion, aber in einer komplementären Beziehungsform; «die Schwester» etwa, vorher selbstbewusst und glücklich verheiratet, ist jetzt eine verhuschte Einsiedlerin. Das Schlussbild ist von tragischer Ironie: «Der Sohn», jetzt David, der von Axle Verlassene, wird von der Mutter genötigt, ihre Einsamkeit zu füllen. Er kuschelt, weil er muss, und sie ist sich sicher: «Jetzt wollen wir Freude finden!»

Mina Salehpour baut mit sehr viel Respekt vor dem Text (vielleicht mit etwas zu viel Vorsicht) Lygres Beziehungsgespinst aus zu einer hoffnungsstarken Tragödie. Im leeren schwarzen Bühnenraum (Andrea Wagner) ist alles, was gesprochen wird, reine Imagination. Zuvorderst ist es vielleicht die Utopie, die Gemeinschaft heisst. Was tatsächlich handfest und handwarm zu greifen ist, ist das Brot, das am Ende seine Duftmarke setzt. Brot und Spiele wie im alten Rom. Und es funktioniert noch immer!

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