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Tanz

Diese Company hat einen grossen Schritt nach vorne gemacht

Neel Jansen und Graciela Martínez Arribas präsentieren mit ihrer Aargauer Lit Dance Company ihr zweites Stück «Sapere aude» in der Alten Reithalle Aarau – eine feine Sache.
Die Lit Dance Company bringt in Aarau ein fantasievolles Programm auf die Bühne, 
Bild: Bild: Elisa Theiler/zvg

Sapere aude! – «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Der Wahlspruch der Aufklärung, wie Immanuel Kant ihn formulierte, erscheint heute in einer von Informationen und Daten überfluteten Welt ein fast unerreichbares Ziel. Lässt sich darin überhaupt ein eigener Standpunkt finden? Das wollen die Choreografen Neel Jansen und Graciela Martínez Arribas mit tänzerischen Mitteln herausfinden.

Unmöglich, geht es einem durch den Kopf, das ist ein zu grosses Thema. Doch in der Alten Reithalle Aarau beschliesst man: Lass «Sapere aude» einfach auf dich zukommen. Und: Denke daran, wie gelungen die erste Kreation des in Wettingen beheimateten Duos war. «Perceptions», 2020 im Kurtheater Baden uraufgeführt, wurde zur nachhallenden Überraschung.

Viele Fragen rund um das souveräne Individuum

Damals beeindruckte ein Tanzvokabular, das Elemente des klassischen Balletts mit solchen des modernen Tanzes mischte. Den oft heftig schwingenden Arm- und Beinbewegungen begegnet man auch jetzt. Anders als in «Perceptions» ist das jüngste Werk jedoch erzählerischer und impulsiver; zugleich gelassener und mit feiner Ironie gewürzt. Das Stück beginnt mit einem eindrücklichen Intro. Gedämpftes Licht (Hansueli Trüb) lässt die weissen Plastikplanen auf dem Fussboden weich erscheinen. Unter diesen verbergen sich fünf Menschen (Alexander Hallas, Mara Peyer, Ilaria Rabagliati, Manuel von Arx, Lia Lütolf), die sich nach und nach herauswinden. Stehen sie schliesslich auf der Bühne, bekommt auch die hängende, riesige Gitterkugel ein anderes Gewicht.

Für die fünf beginnt danach eine Runde mit vorsichtiger Kontaktnahme sowie schnellen und verlangsamten Bewegungsverläufen. Hebefiguren? Gibt es, doch sie führen nicht in luftige Höhen. Bloss: Was hat all dies mit dem Titel «Sapere aude» zu tun? Viel. Denn nach diesen Szenen zum Musikstrom von Christoph Scherbaum und Gary Shepherd dringt mit einem Mal Stimmengewirr an unsere Ohren. Was wird verhandelt? Sind Einmischung und Haltung gefragt? Was bedeutet es, wenn eine männliche Schaufensterpuppe von einer Frau in der Kugel platziert und in Frauenkleider gesteckt wird? Das sind Fragen rund um das souveräne Individuum und dessen Gefahr, sich in der Abhängigkeit von Technologie, Information und Daten zu verlieren.

Mutig und fantasievoll inszeniert

Die Tänzerinnen und Tänzer greifen diese Fragen auf, indem sie sich – inzwischen unterstützt von einem stark rhythmisierten Soundteppich – ihre engen Frauenkleider über den Kopf ziehen und so entfernt an Mummenschanz-Figuren erinnern. Was sie damit ausdrücken? Überforderung. Sie wollen und können nichts mehr aufnehmen – bis zum nächsten Mal, wenn sie erneut dem Stimmen-Tohuwabohu ausgeliefert sind. Dann ziehen sie rote Boxhandschuhe an, um mehr spielerisch denn zornig zu kämpfen, oder sie umwickeln ihre Gesichter mit Gaze, bis ihre Individualität verschwindet und sie der Anonymität anheimfallen.

Ist das trostlos? Nicht in der tänzerischen Umsetzung von Neel Jansen und Graciela Martínez Arribas. Die beiden, unbeirrt in ihrem Glauben an Kants Wahlspruch, richten ihr Augenmerk permanent auf einzelne Tänzer, die sich von der Gruppe lösen, um – als mutig sich ihres Verstandes bedienende Individuen – die Kolleginnen und Kollegen in stetig neue Konstellationen mit neuen Bewegungsmustern zu führen. Kurzum: Mit «Sapere aude» glückt dem Duo Jansen/Arribas eine feine, fantasievolle Arbeit, die zeigt: die Lit Dance Company hat einen grossen Schritt nach vorne gemacht.

20. und 21. Oktober, 20 Uhr, Alte Reithalle, Aarau.

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