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Fotografie

Die ukrainische Autorin Katja Petrowskaja schreibt eine kriegsgeplagte Schule des Fühlens

In ihrem Essayband «Das Foto schaute mich an» bringt die ukrainische Schriftstellerin mit Texten zu privaten und historischen Fotos Gegenwart und Geschichte beklemmend nahe. Sie liest in Basel und St. Gallen.

Wiederkehr brutaler Geschichte: Dieses Bild nach dem Prager Aufstand 1968 könnte auch für die Ukraine stehen.
Bild: Bild: Josef Koudelka / Magnum

Sie kennen das sicher auch: Man liest fasziniert ein Buch – aber spätestens ab der Mitte immer langsamer, damit der Lesegenuss noch möglichst lange anhält. Und wenn man durch ist, will man es gleich vielfach weiterverschenken, um sein Leseglück mit andern zu teilen. Für den Essay-Band «Das Foto schaute mich an» der ukrainischen Autorin Katja Petrowskaja trifft beides zu. Ganz aus dem persönlichen Jetzt heraus geschrieben, ist es eine bewegende Suche nach der Schönheit und nach der verlorenen Zeit, die in ihrer zarten Melancholie bezaubert. Der Sog, den dieses Buch entwickelt, ist erstaunlich, denn wir folgen ja nicht einer zusammenhängenden Geschichte, sondern 57 aussergewöhnlichen Fotos mit ebenso vielen, so klugen wie präzis-feinfühligen Bildbetrachtungen. Entstanden ist der Band aus Kolumnen, welche die Autorin in den letzten sieben Jahren für die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» geschrieben hat.

Katja Petrowskaja, deutsch-ukrainische Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin.
Bild: Bild: Imago/Jürgen Heinrich

Bilder, die verwundern, verschrecken und einen persönlich treffen

Petrowskaja schöpft aus einem breiten Reservoir. Die Bilder sind Fundstücke und stammen aus Zeitungen, Flohmärkten, Ausstellungen, dem Internet, einige wenige auch von berühmten Fotokünstlerinnen. Ausgangspunkt ist immer der radikal subjektive Blick der Autorin, die von einem Bild gefesselt ist. Der Titel, der gleichzeitig den ersten Satz des Bandes bildet, ist durchaus programmatisch zu verstehen: «Das Foto schaute mich an». Und sie schaut zurück. Verwundert, verunsichert, verzaubert, verschreckt. So entsteht ein Dialog, der auch uns Mit-Betrachtende hineinzieht in den suchenden Austausch. Das erinnert an den Semiotiker Roland Barthes und seine prinzipielle Unterscheidung zwischen Bildern des reinen Wohlgefallens und solchen, die einen ganz persönlich treffen, stechen – und auch verletzen können. Petrowskaja setzt sich diesen Bildern aus und öffnet mit jedem einen kleinen Kosmos. Sie leuchtet fragiles Glück, soziale, historische, psychologische, mythologische Hinter- und Abgründe aus, vorsichtig tastend wie eine Forschungsreisende in unsicherem Gelände.

«Wie viel Leben kann in einem Foto stecken?»

Da ist die «Madonna von Alentejo». Wir sehen eine portugiesische Roma-Familie, und Petrowskaja schreibt: «Diese Gleichzeitigkeit des Sehens kann man in keinem Text nachahmen: das Lächeln, die Brust der Frau, das Kind, das kein Säugling mehr ist, die Blicke der Männer, die Hände – die schwingende Dynamik der ganzen Gruppe. Wie viel Leben kann in einem Foto stecken?» Und dies alles vor dem Hintergrund, dass die Roma bis heute das wandernde Objekt der Xenophobie geblieben sind. Nur einen Tag davor ist das kleine, misstrauisch blickende Mädchen im Vordergrund noch aus einem örtlichen Geschäft gejagt worden.

Tschernobyl und Prager Aufstand als zeitlose Symbole

Oder das «Chernobyl Herbarium» mit Pflanzen, die kein Botaniker identifizieren kann. Diese Flora aus dem verseuchten Umfeld des Katastrophen-AKWs in Petrowskajas Heimat wurde mit einem speziellen fototechnischen Verfahren so «entwickelt», dass sie dort leuchtet, wo Radioaktivität gespeichert ist. Das Unsichtbare wird ins Licht gerückt: «Die Zone der Entfremdung ist ein Experimentierfeld für die Rückkehr der wilden Natur.» – «Schön, unheimlich schön.»

Oder Prag im August 1968, eben massiv beschossen und eingenommen von den Truppen des Warschauer Paktes. Der alte Mann schaut direkt in die Kamera, ein «Antlitz von Trauer und Niederlage in destillierter Form, stellvertretend». Das ikonische Bild stammt vom tschechischen Fotografen Josef Koudelka, einem der wichtigsten Chronisten dieser Tage. «Die Stille, das verbrannte Haus, die Menschen vor der Wand des stark beschossenen Hauses nebenan, der alte Mann», registriert die Autorin scheinbar nüchtern, und schreibt: «Seine klaffenden Augen gleichen den schwarzen Fenstern hinter ihm.»

Die Vielfalt der Themen und Zugänge macht Petrowskajas Essays zu einem fragmentierten Panorama gesellschaftlich relevanter Aspekte, gerade auch im Individuellen. Sie fokussiert den Zauber und den Schrecken der Fragilität des Menschseins. Ihr Blick ist immer empathisch und analytisch zugleich, mehr suchend als behauptend, eine Bilderreise voller Fragen. Wer ihren Betrachtungen und Assoziationen folgt, erlebt eine beflügelnde Schule des mehrschichtigen Sehens und Fühlens.

Der Verlust der Krim war Auslöser der Fotorecherche

Katja Petrowskaja bereichert damit eine illustre Schar ausgekochter Bild-Text-Fans, von Marcel Proust, Walter Benjamin, W. G. Sebald über Susan Sontag, Roland Barthes bis hin zu Wilhelm Genazino und Sophie Calle. Warum aber wühlt sich die ukrainische Autorin so begierig durch diese Bilderwelten? Sie sagt:

«Ich wusste nicht, wie ich mit diesem Krieg und der verlorenen Krim meiner Kindheit umgehen sollte, mit diesen Schmerzen.»

Und fährt fort: «So sind diese Foto-Kolumnen entstanden, aus Unwissen und Unruhe.» Ihr Buch handle nicht vom Krieg, schreibt sie im Nachwort, aber es werde vom Krieg umklammert. Und fast erschreckt stellt man fest, wie seismografisch präzis sie in diesen letzten sieben Jahren die Schrecken des aktuellen Krieges vorausahnt. Das erinnert auch an Petrowskajas Erstling, «Vielleicht Esther», den Versuch einer Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte im Zweiten Weltkrieg.

Geschichte beginnt, wenn man keine Zeitzeugen mehr fragen kann

Ähnlich fragmentarisch, ähnlich suchend und ähnlich begierig auf Erinnerungen, an denen man sich festhalten kann. «Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen», schreibt sie. Und sie unterstreicht das auch im Gespräch: «Erinnerungen sind der kostbarste Besitz.» Mit «Vielleicht Esther» gewinnt Katja Petrowskaja 2013 beim Klagenfurter Wettlesen den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nach der Preisverkündigung sagt sie als Erstes: «Ich hätte mir eigentlich etwas mehr Kritik gewünscht.» Das Buch ist inzwischen in über dreissig Sprachen übersetzt und mit weiteren Preisen bedacht worden.

Auch ihr zweites Buch liegt jetzt bereits in zweiter Auflage vor und Übersetzungen sind in Vorbereitung. Die Autorin wird sich wohl an den Erfolg gewöhnen dürfen. Etwas Weiteres ist Katja Petrowskaja mit Sicherheit gelungen. Heute werden ja allein auf Instagram, wie man errechnet hat, mehr als 1000 Bilder pro Sekunde hochgeladen. Ein erklärtes, nur scheinbar paradoxes Ziel der Autorin ist es, mit ihrem Bildband «die Inflation der Bilder zu bremsen». Man wird ihr aktuelles Buch immer wieder zur Hand nehmen und sich an den ausgewählten Bildern und Texten im genauen und langen Hinschauen nicht sattsehen können.

Bücher von Katja Petrowskaja:•Das Foto schaute mich an. 256 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022 • Vielleicht Esther. 288 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014 Lesungen mit Katja Petrowskaja:• 17.9.2022 in Saanen-Gstaad, Hotel HUUS, 20 Uhr • 19.9.2022 im Literaturhaus Basel, 19 Uhr • 22.9.2022 im Kunstmuseum St. Gallen, 20 Uhr

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