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Best Of February

Die beste Musik des Monats
kommt aus der Schweiz:
Ellis Mano Band und Troubas Kater

Die Musik könnte unterschiedlicher nicht sein: Hier der bläserlastige Mundart-Pop, da der bluesgefärbte Rock. Beide Bands gehen konsequent ihren Weg und lassen sich von Zwängen des Marktes nicht beirren. Deshalb haben wir in diesem Monat zwei Alben des Monats.

1. Ellis Mano Band: Luck Of The Draw

Streaming hat die Musikwelt auf den Kopf gestellt. Nicht nur das Geschäftsmodell, sondern auch das Songwriting. Wer in die Charts will, soll schnell zur Sache kommen, heisst es. Hoppla, da bin ich. Keine ausschweifenden Intros, keine langen Strophen. «Hook oder Refrain zuerst» lautet das Credo der Streaming-Gläubigen.

«Wir pfeifen auf die Zwänge des Streaming-Zeitalters», sagt dazu Bandleader und Gitarrist Edis Mano der Ellis Mano Band. Vierzig Sekunden dauert zum Beispiel das Intro zu «Get Out». Bevor Sänger und Co-Bandleader Chris Ellis einsetzt, wird ein monumentales Gitarrenriff, das von Led Zeppelin stammen könnte, ausgekostet. Das ist überhaupt das Kennzeichen des dritten Albums der famosen Band. Die Musik atmet, sie nimmt sich Zeit. Atmosphären werden aufgebaut und ausgereizt.

Es wird nicht gleich alles Pulver verschossen. «Beim Essen wird auch zuerst eine Vorspeise serviert – was wäre Sex ohne das Vorspiel? Du willst in Stimmung kommen. In der Musik ist es genauso», sagt Mano. Das Intro führt dich in eine neue Welt. Lässt dich die Musik spüren. Es ist Musik für Geniesser, für jene, die Musik hören wollen.

Ellis Mano Band: Lukas Bosshardt, Edis Mano, Chris Ellis, Nico Looser und Severin Graf (von links).
Bild: Nicolas Bruni / ZVG

Gitarrist Edis Mano (Baschi, Kunz, Luca Hänni), Bassist Severin Graf (Marc Sway, Dodo, Adrian Stern ) und Schlagzeuger Nico Looser (Betty Legler, Baschi) gehören zu den gefragtesten Schweizer Musikern. Sie haben die Normen des Schweizer Pop auf und ab dekliniert, die Zwänge im kleinen Schweizer Markt am eigenen Leib erfahren.

«In der Schweizer Popmusik fehlt vielfach der Mut, sich auf die Äste hinauszuwagen. Sich auf unbekanntes Terrain zu begeben. Viele Musikerinnen und Musiker haben nicht den Mut, das zu machen, was ihnen gefällt. Sie machen das, was sie glauben, machen zu müssen. Die Angst komponiert mit», sagt Mano.

Von diesem kreativitätshemmenden Diktat, will sich die Ellis Mano Band befreien. «Wir haben den inneren Drang, nur die Musik zu machen, die uns auch wirklich gefällt», sagt Mano. Neu mit dem Orgel-Guru Lukas Bosshardt als fünftem, festem Bandmitglied wollen sie sich nicht einschränken und brechen aus dem Popkorsett aus. «Popdenken und Popraster fallen weg», sagt Mano. Der Song diktiert Länge und Struktur, nicht Spotify oder die hiesigen Formatradios.

So mischen sich immer wieder Teile in die Songs, die wir vom progressiven Rock kennen. Prägend für den Song «Get Out» zum Beispiel ist eine Modulation des Themas. «Without a Warning» hat drei Tonarten-Wechsel und lässt Gasttrompeter Dave Blaser viel, viel Platz. Sowieso: Die Ellis Mano Band hat keine Angst vor langen Soli. Die eleganten Gitarrensoli von Edis Mano gehören zu den Höhepunkten des Albums. Mehr davon! Musikalisches Glanzstück ist aber das schleppende «Forsaken», in welchem sich Sänger Chris Ellis emotional austobt und in ein orgiastisches Finale mündet. Zum Schreien schön.

Die vor fünf Jahren gegründete Ellis Mano Band ist weder Chartstürmerin noch Streaming-Millionärin. Sie zeigt den Streaming-Gläubigen die lange Nase, lässt sich schwer einordnen und widersetzt sich den Geboten des Marktes. Das Quintett sucht nicht den schnellen und kurzlebigen Erfolg. Stattdessen hat es sich einer behutsamen und nachhaltigen Entwicklung verschrieben.

Das ist vielleicht ein mühsamer, langwieriger Prozess, aber einer, der sich auf die Länge auszahlen könnte. Die internationale Fachpresse jubelt jedenfalls schon lange. Mit dem aktuellen Album hat der Jubelpegel nochmals zugenommen. «Ins Staunen bringt einen dieses Band immer wieder», schreibt das Magazin «Eclipsed». Vor allem in Deutschland ist man auf die Schweizer Band aufmerksam geworden, weshalb fast die Hälfte der Konzerte der anstehenden Tour durch Deutschland führen. Aber auch in Grossbritannien tut sich was. Das Magazin «Great Music Stories» hat «Luck of the Draw» zum Album des Monats gewählt.

1. Troubas Kater: Karma & Kaviar

Bandleader QC sah sich weder als Politpoet noch als Moralprediger. Lieber verpackte er seine Botschaften in wunderliche Geschichten mit doppeltem Boden. Krieg, Pandemie und Klimakrise haben alles verändert. Die Themen auf dem neuen, dritten Album «Karma & Kaviar» kreisen um Konsumkritik, Weltuntergang. Trennung und Angst. Dazu hat sich mit «Celsius» sogar ein famoser Song zur Klimakatastrophe ins Repertoire geschlichen. Eine arabisch gesungene Passage, die für den Sahara-Staub über den Alpen steht, verleiht dem Song einen internationalen Touch.

Ganz klar: Der Kater ist auf «Karma & Kaviar» gesellschaftskritisch und politisch geworden, will aber auch Hoffnung verströmen. QC liebt dieses Doppelbödige und Gegensätzliche. So kontrastieren die düsteren Lyrics oft mit den optimistischen Refrains und den euphorischen Instrumentalpassagen. QC spricht von zwei Sichtweisen auf die gleiche Sache.

Troubas Kater mit Frontmann QC.
Bild: ZVG

Sie verdeutlichen die emotionale Zerrissenheit der heutigen Welt, der heutigen Gesellschaft, so wie es auch der belgische Sänger und Produzent Stromae meisterhaft tut. «Bei Stromae gibt es einen ersten und einen zweiten Eindruck, er erste, die Musik ist gefällig, tanzbar und eingängig, wenn man sich aber mit den Texten beschäftigt, kommt es knüppeldick», sagt QC bewundernd.

In diese Richtung bewegt sich auch Troubas Kater auf «Karma & Kaviar». Der Kater tanzt am Abgrund, vor dem Weltuntergang. «Vielleicht sehen wir es, aber wir tun so, als ob wir nichts wissen», heisst es im arabischen Teil von «Celsius». Trotz der Schwere der Themen groovt die Musik, regt zum Tanzen an und gibt einen Happen Hoffnung. Es ist noch nicht alles verloren.

Die achtköpfige Combo um Frontmann QC wurde vor fünf Jahren gegründet, um den Sound von hier und heute aufzuspüren. Aber mit akustischen Instrumenten wie Blasinstrumenten, akustischer Gitarre, Schlagzeug und Akkordeon. «Es war von Anfang an die Idee, mit akustischen Instrumenten über das Traditionelle hinauszugehen und den Klang zu erweitern und zu aktualisieren», sagt QC, der sich oft von aktuellen elektronischen Sounds inspirieren lässt.

In diesem spannenden Prozess stellen sich Fragen wie: Was geht mit akustischen Instrumenten und was geht nicht? Wie können Elemente aus dem Elektronischen ins Akustische übersetzt werden? Wie können die Möglichkeiten der Instrumente ausgelotet werden?

Eine Knacknuss ist immer wieder der Bass, der bei Troubas Kater auf dem Sousafon von Jürg Lerch gespielt wird. Das gibt dem Bandsound einen besonderen Charakter und ist sehr prägend. Andererseits sind dem Sousafon-Spieler physische Grenzen gesetzt, die elektronische Subbässe nicht kennen. Die Herausforderung besteht darin, auf dem Sousafon jenen Wummereffekt zu erzielen, wie wir ihn bei «Bänker und Buur» hören. Faszinierend ist auch, wie das Sousafon im Song «Floss» Wucht und Pegel des vollelektronischen Trap-Rap übernimmt.

Troubas Kater gehört zum Besten und Innovativsten, was Schweizer Mundart-Pop heute zu bieten hat. Trotzdem ist der ganz grosse Erfolg noch nicht eingetreten. «Wir merken, dass etwas passiert, etwas wächst – langsam und beständig», sagt dazu QC. Konzertorte, die vor drei Jahren mässig besucht waren, sind heute ausverkauft. Auch die Gagen steigen. «Wir suchen nicht den schnellen Erfolg. Wir sind eine Familie, wollen zusammen etwas entwickeln und suchen deshalb Beständigkeit.» Mit «Karma & Kaviar» hat die Band an Relevanz gewonnen und einen grossen Schritt vorwärts gemacht.

3. Hausquartett : From The Cadavre Exquis Collection

Das Hausquartett ist ein Unikum in der Schweizer Jazzszene. Gegründet vor mehr als zwanzig Jahren, gilt die Formation als eine der wenigen Working Bands der Schweiz. An den regelmässigen Konzerten als Hausquartett in der Badener Unvermeidbar ging es den vier Musikern darum, eine eigene Sprache zu entwickeln, eine Musizierform, die vom freien Spiel ausgeht, zugleich aber auf ein Reservoir von Themen und Standards zurückgreifen kann. Hochflexibel und hochexplosiv!

Die Rhythmusgruppe ist seit den Anfängen dieselbe und besteht aus alten Hasen des Schweizer Jazz: Christoph Baumann (Klavier), Hämi Hämmerli (Bass) und Tony Renold (Schlagzeug). Kein Wunder hat sich über die Jahre ein blindes, traumwandlerisches Ensemblespiel entwickelt. Begonnen hat das Quartett mit dem Altsaxofonisten Christoph Merki, dazu kamen Arbeiten mit Sängerin Isa Wyss und Aufnahmen mit dem Bühnenautor Guy Krneta. Seit sechs Jahren ist der Tenorsaxofonist Christoph Grab fester Bestandteil.

Als Corona die Arbeit der Working Band verhinderte, erinnerte sich Baumann an eine Kompositionsmethode, die er in den 80er-Jahren mit dem verstorbenen Saxofonisten Urs Blöchlinger in der legendären Grossformation Cadavre exquis entwickelte. Cadavre exquis ist nämlich nicht nur ein Bandname, sondern vor allem ein von den Surrealisten im frühen 20. Jahrhundert entwickeltes Spiel.

Wir kennen es von den Faltzetteln, die herumgereicht werden, um in der Runde Bilder oder auch Texte zu schaffen. Die Zettel werden gefaltet, damit die Mitspieler nicht wissen, was die anderen gemacht haben. Bekannt sind allenfalls Übergänge. Auf diese Weise entstehen oft lustige Fantasiewesen oder skurrile Sätze.

Baumann und Blöchlinger haben dieses spielerische Verfahren damals zur Entwicklung ihrer Musik verwendet. Für das Hausquartett schien die Methode geeignet, um die geografische Distanz der Bandmitglieder während der Pandemie aufzuheben. Cadavre exquis ermöglichte es, zusammen zu spielen, ohne zusammen zu sein. Der Erste improvisierte zu Hause eine Minute und nahm sie auf.

Die letzten Sekunden übermittelte er dem Nächsten als Anknüpfungspunkt. Dieser spielte wieder eine Minute ein und schickte 10 Sekunden als Übergangshilfe. Und so weiter, bis alle dran waren. Aneinandergehängt und montiert ergab das zwar lustige, aus der Not geborene Kompositionswesen. Sie konnten aber den Liveprozess in keiner Weise ersetzen.

Am 21. April 2022, nach überstandener Pandemie, kam die grosse Erlösung. Die Working Band konnte ihr Material wieder in Echtzeit einspielen. Live in der Unvermeidbar aufgenommen, ist eine lustvolle Musik entstanden, wie wir sie von der Schweizer Jazzszene schon lange nicht mehr gehört haben. Klar, da sind mit Hämmerli (69) und Baumann (68) zwei Koryphäen des Schweizer Jazz am Werk, mit Schlagzeuger Renold (64) der subtilste unter den Subtilen und mit Christoph Grab (55) der zurzeit wohl beste und vielseitigste Schweizer Saxofonist.

Aber eine solch überbordende Spielfreude, Spielwitz und Verspieltheit hätte man eigentlich von jungen, hungrigen Musikerinnen und Musikern erwartet. Da hat sich ganz offensichtlich etwas aufgestaut, das rausmusste. Das dritte Album des Hausquartetts ist ein Hörgenuss, ein freudiges Ereignis und ein grosses Vergnügen.

4. Gorillaz: Cracker Island

Vor 25 Jahren waren Gorillaz eine Sensation. Eine virtuelle Band um die Comicfiguren 2D (Leadgesang und Keyboard) und Noodle (Gitarre), erfunden von dem Blur-Frontmann Damon Albarn, erschaffen vom Zeichner Jamie Hewlett («Tank Girl»). Ein audiovisuelles Vergnügen und eine Art Band von Avataren lange bevor ABBA mit «Voyage» die Idee aufnahm und perfektionierte. Im Gegensatz zu ABBA waren 2D, Noodle & Co. aber fiktive Figuren, die sich auf keine lebenden Personen. Das Bandprojekt Gorillaz richtete sich gegen den Starkult im Pop.

Die Gorillaz waren ein Riesenerfolg. Die ersten Alben, «Gorillaz» (2001) und «Demon Days» (2005) verkauften sich millionenfach. Doch mit der Zeit nutzte sich das Konzept ab. Die Alben wurden von der Kritik zwar gefeiert und waren oft besser als so manches aus der Schatulle des Pop, aber die Alben verkamen zu einer losen Revue mit unzähligen Gastmusikern. Aber auch musikalisch entwickelte sich die Band zu einem Gemischtwarenladen ohne roten Faden. Die unterkühlten Songs erreichten das grosse Publikum nicht und konnten nie mehr an den Erfolg der magistralen Alben anknüpfen.

Das könnte sich mit dem neuen, siebten Album, «Cracker Island» ändern. Denn Damon Albarn hat die Gästeschar diesmal stark reduziert. Wir treffen auf den Tausendsassa Beck, das psychedelische Bandprojekt Tame Impala, die Fleetwood Mac-Sängerin Stevie Nicks, 74, oder den puerto-ricanischen Rapper Bad Bunny. Albarn lässt sich auch auf «Cracker Island» stilistisch nicht einordnen, die zehn Songs klingen aber diesmal viel homogener. Das hat wohl damit zu tun, dass er meist den Leadgesang selbst übernimmt. Noch entscheidender: Die zehn Stücke sind songorientiert, weniger Rap, mehr Pop.

Der Mastermind lässt seine kompositorische Brillanz aufblitzen. Zum Beispiel «Oil», auf dem Albarn lakonisch und warm beginnt. Stevie Nicks setzt ein und singt die zweite Stimme. Der Song scheint keinen Refrain zu haben, erzeugt aber eine zunehmende Spannung, bevor er ganz am Schluss doch noch kommt, der Refrain: Es ist die Erlösung. Weitere Songperlen sind «Skinny Ape», das Titelstück «Cracker Island», ein groovendes Funkmonster mit Elektrobass-Hexer Thundercat und das melancholische «Tired Influencer» sowie die hymnische Ballade «Possession Island» mit Beck.

Eigentlich sind die Comicfiguren heute fast überflüssig. Die Musik steht für sich selbst.

5. Young Fathers: Heavy Heavy

Beinahe jedes Lied auf dieser Platte ist eine kleine Zumutung. So voller Abzweigungen, Neuerfindungen und Wechseln ist das alles. Überladen.

Aber halt auch: grossartig. Das trampt aufregend voran. Bedient sich überall. Im Pop, in World Music, im Hip-Hop. Es schmilzt alles zusammen, überlagert sich. Und klingt dabei doch so erfrischend neu. Und eigenständig. Und aufregend. Zappelnder Pop mit viel Charme.

6. Uriah Heep: Chaos & Colors

Live sind die Hard Rock-Veteranen von Uriah Heep immer noch eine Macht. Und das mehr als 50 Jahre nach der Gründung. Nun haben sie auch mit ihrem 25. Album Chaos & Color ein starkes Lebenszeichen geliefert. Die Band um Gitarrist Mick Box zeigt ihre gewohnten Qualitäten.

Wegen Corona hat die 1969 gegründete Hard Rock-Band Uriah Heep ihre Jubiläumstour zum 50. Bandjubiläum erst im letzten Jahr absolviert. Die Auszeit vom Konzertleben hatten die Briten aber für ihr neues Studioalbum genutzt, das jetzt erschienen ist. «Chaos & Colours» ist die Nummer 25. Hochgerechnet gab es also fast alle zwei Jahre ein neues Werk von Uriah Heep.

Gitarrist Mick Box ist der letzte Verbliebene der Ur-Besetzung. Er hat mit Uriah Heep seit 1969 viele Höhen und Tiefen erlebt und ist das letzte verbliebene Gründungsmitglied. Zahlreiche frühere Weggefährten sind nicht mehr am Leben. Zuletzt starben 2020 Mitgründer Ken Hensley und der langjährige Ex-Drummer Lee Kerslake, 2021 der ehemalige Sänger John Lawton.

In Sachen Kreativität lässt sich die Band nicht reinreden. «Wir haben eine Situation erreicht, wo man uns allein lässt. Wir müssen nur am Ende des Tages das Album abliefern und sagen: Hier ist es,» sagt Box. Zwar arbeiten Uriah Heep auch mit externen Songwritern zusammen, doch das Resultat muss immer «very heepy» - sehr nach Uriah Heep - klingen, wie Box wiederholt betont.

Zum zweiten Mal hat sich Jeff Scott Soto eingebracht. Soto, der auch mal kurze Zeit Frontmann der US-Melodic-Rocker Journey («Don’t Stop Believin’») war. Er ist mit Heep-Bassist Dave Rimmer befreundet. Das wuchtige «Save Me Tonight», das die beiden gemeinsam geschrieben haben, eröffnet das hervorragend produzierte Album.

Auf «Chaos & Colours» ist der markante Stil von Uriah Heep auch nach 50 Jahren unverkennbar. Box’ Gitarrenriffs und der mächtige Sound der Hammond-Orgel sind genauso präsent wie die Prog-Einflüsse, der markante Chorgesang und die kräftige Stimme von Bernie Shaw, der inzwischen seit 36 Jahren Sänger von Uriah Heep ist. «Age Of Changes» und «One Nation, One Sun» sind die Höhepunkte unter den elf kraftstrotzenden Songs. «Chaos & Colours» ist ein starkes Hardrock-Album ohne jegliche Alterserscheinungen - eben «very heepy».

Und ein Ende von Uriah Heep ist nicht in Sicht. Mick Box hat jedenfalls schon mit dem Songwriting für das 26. Album begonnen.

7. Brad Mehldau: Your Mother Should Know

Angefangen hat alles mit « Blackbird», dieser Songperle von Pop-Amadeus Paul McCartney. Rund 8 Millionen mal wurde die Interpretation des amerikanischen Pianisten Bard Mehldau von 1996 auf Spotify seither gestreamt.

An den Konzerten waren die Beatles-Stücke danach die umjubelten Zugaben. Das süsse Dessert. Jetzt, endlich!, hat der 52-jährige Amerikaner seinen Pop-Idolen ein ganzes Album gewidmet. «Your Mother Should Know» ist der ironische Titel mit neun Lennon-McCartney-, einem George Harrison-Stück. Das Album klingt mit dem Bowie-Klassiker «Life On Mars» aus. Vielleicht ein Vorbote auf neue Pop-Interpretationen.

Man soll ja mit dem Wort Genie vorsichtig zurückhaltend sein. Wie der Wunderpianist mit dem Pop-Material umgeht, wie er es harmonisch erweitert und verschiebt, wie er mit Spannungen arbeitet und wie er sich die Evergreens mit seinem Einfallsreichtum aneignet, ist schlicht genial.

8. Lucas Santtana: O Paraíso

Lucas Santtana ist ein besonnener, sozialkritischer Zeitgenosse in der Tradition des Tropicalismo. Sein neustes Album ist ein eindringlicher Appell, der Erde Sorge zu tragen. Sein Weckruf klingt aber nicht alarmistisch. Seine Botschaft verkündet er vielmehr leise und zart, mit zerbrechlicher Stimme. Die Stimmung ist melancholisch, aber die Hoffnung überwiegt. Die Musik ist verspielt, unglaublich reich und poetisch. In diesem Paradies würden wir gern leben.

9. Transmissions from Total Refreshment Centre

Das Total Refreshment Centre ist ein Kreativ- und Begegnungszentrum in London, das in den letzten zehn Jahren entscheidend zur Belebung und Entwicklung der Musikhauptstadt beigetragen hat. Eine Kooperation mit dem berühmten Blue Note-Label macht nun die Arbeit hörbar. Entstanden ist ein erfrischender und elektrisierender Sampler zwischen Jazz, Hip-Hop, Dub, Soul und Funk. Ohren auf!

10. Tobias Preisig: Closer

Der Schweizer Geiger lässt die Geige erklingen wie kein anderer. «Closer» markiert das zweite Kapitel in einer Album-Trilogie des in jeder Beziehung weit gereisten Tobias Preisig.

Tobias Preisig lässt sich gern überraschen – vor allem von seiner eigenen Muse. Sie hat den inzwischen 41-jährigen Musiker weit weg geführt von der Appenzeller Volksmusik-Stubete mit dem handorgelnden Vater. Es waren Sessions, die ihn bleibend geprägt haben: «Der Vater hat mit irgendetwas angefangen und ich habe versucht mitzuhalten. Es gab keine Noten. Das ist ein Mega-Luxus gewesen, so anfangen zu dürfen.»

Fürchterlich habe es getönt: «Aber das war egal. Viel wichtiger war die Tatsache, dass wir zusammen Musik machten.» Diese Stimmung versucht er noch heute einzufangen. «Es gibt nichts Schöneres als dieses Gefühl beim gemeinsamen Musizieren. Ein Gefühl suchen, nicht eine Performance, das ist es!»

Mit fünfzehn Jahren war Preisig Miles Davis-Fan und spielte mit der Geige Bebop. Kaum zwanzig gehörte er dem European Youth Jazz Orchestra an. Er studierte klassische Geige, arbeitete mit George Gruntz und Daniel Schnyder, und gewann mit dem Kaleidoscope String Quartett 2012 den ZKB Jazz-Preis. Drei Alben entstanden mit dem Tobias Preisig Quartett und er erwarb sich den Ruf eines Teufelsgeigers. 2015 verlegte er sich dank eines vom Popkredit der Stadt Zürich gewährten Atelieraufenthaltes nach Berlin. Aus den geplanten sechs Monaten wurden sieben Jahre.

Inzwischen hatte er mit dem Schlagzeuger Alessandro Giannelli die Band Egopusher formiert und sich mit elektronischen Klangmitteln auseinandergesetzt. In Berlin vertiefte er dieses Interesse und kam überdies auf den Geschmack von Geräuschen aller Art als Teil von Musik. «Selber habe ich gern Melodien zum sich daran festhalten», sagt er, «aber als Inspiration finde ich nicht tonale Musik sehr spannend.»

Noch vor der Pandemie erschien «Diver», der erste Teil einer geplanten Trilogie. Nun folgt Streich zwei, «Closer». Es beginnt mit dem hyperaktiven Titelstück, das von einem rasenden, immer gleichen Geigenton vorwärtsgetrieben wird: «Ein Sammelsurium von Klangfarben», so Preisig, «die das Album definieren.» Die acht Stücke, die danach folgen, pendeln zwischen simplen, schönen Melodien («Grace»), feinen gezupften Motiven («Colorzzz») und dicht gewobenen Klangteppichen.

Mit Geige, Sampler und Effektpedalen spielte Preisig die Grundmotive ein, der Berliner Produzent Jan Wagner bearbeitete diese mit Computern, die auch mal klingen können wie ein Mellotron, und Alessandro Giannelli fügte seine Beats hinzu. Jedes einzelne, kaleidoskopartige Stück bildet eine Einladung zum inspirationshaften gedanklichen Driften. Mit «Diver» stürzte sich Preisig ins Abenteuer, mit «Closer» nimmt er gewisse Stimmungen genauer unter die Lupe.

Was wird der dritte Trilogie-Teil bringen? «Ich bin noch nicht sicher. Am Anfang habe ich einfach gedacht: ich fange mal an. Meine Musik verändert sich ja über die Jahre hinweg, das hält mich wach.»

11. Yo La Tengo: This Stupid World

Mit einer unerschütterlichen Gelassenheit singen Yo La Tengo zuweilen gegen ihre eigene Musik an. Das wabert das Feedback bis an die Schmerzgrenze. Die zerbrechliche Klarheit kämpft hier mit dem gesteuerten Chaos. Selten in den 40 Jahren Bandgeschichte klang die amerikanische Band so fokussiert. Und es hat bei allem Herz für Lärm auch ganz viel Drive. Rock. Vertrackt, nicht verkopft. Vielschichtig und: wunderschön.

12. Pink: Trustfall

Ihr neuntes Studioalbum beschreibt Superstar Pink als «emotionale Reise». Auf «Trustfall» geht es um Vertrauen, Mut, kleine und grosse tägliche Dramen. In ihren Songs und im dpa-Interview erzählt die US-Sängerin erfrischend offen und authentisch aus ihrem Leben.

Wäre das Leben doch bloss wie ein Whitney-Houston-Song! Das wünscht sich Pink in einem Song von ihrem neunten Album «Trustfall». Die mitreissende und sehr tanzbare Gute-Laune-Single «Never Not Gonna Dance Again» ist ein Plädoyer dafür, die schönen Dinge im Leben nicht zu versäumen. «Ich bin niemand, der Dinge bereut», sagt die US-Sängerin bestens gelaunt im Interview der Deutschen Presse-Agentur in London. «Aber ich denke zu viel über alles nach.»

Es mag den Anschein haben, Pink habe in ihrer mehr als 20-jährigen Karriere kaum etwas ausgelassen, doch im Privatleben sieht es mitunter anders aus. Es sind die vermeintlich normalen Dinge, bei denen es für den Pop-Superstar nicht immer wie erhofft läuft. Auf «Trustfall» erzählt Pink, die bürgerlich Alicia Moore heisst, von den Höhen und Tiefen ihres Lebens jenseits der Bühne - und gibt dabei wie gewohnt sehr private und intime Einblicke.

So habe sie ein Strandausflug mit ihren Kindern, bei dem sie von Paparazzi verfolgt wurde, zum Song «Never Not Gonna Dance Again» inspiriert. «Ich wollte nicht, dass die ein Foto von mir in meinem Badeanzug machen, weil ich mich unsicher fühlte», erzählt die 43-Jährige. «Also habe ich nicht mit meinen Kindern gespielt. Und das hat mich so geärgert. Ich habe mich über mich selbst geärgert, dass ich die Zeit verschwendet habe und wir wegen sowas Blödem eine schöne gemeinsame Erinnerung verpasst haben. Da habe ich entschieden: Sowas kommt nie wieder vor.»

Auf ihrem neuen Album wechseln sich stimmungsvolle Popsongs immer wieder mit melancholischen Balladen ab. Eine bewusste Entscheidung. «Die Reihenfolge auf diesem Album war mir sehr wichtig», betont Pink. Eine Aufteilung in eine «Tanzparty» und eine deprimierende zweite Hälfte sei nicht in Frage gekommen, denn: «Für mich ist das Leben ein Auf und Ab. Und ich wollte, dass das Album eine komplette emotionale Reise ist.»

Mit der Pianoballade «When I Get There» ist schon der Einstieg sehr melancholisch. «Nach dem Motto: Hi, ich bin Alicia. Setz dich hin, ich muss dir was sagen und hier sind ein paar Taschentücher.» Es geht in dem Song um die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit geliebten Menschen, die nicht mehr unter uns sind.

«Wir haben alle Verlust und Trauer erlebt, und das ist hart», sagt die Sängerin, die vor anderthalb Jahren ihren Vater an den Krebs verlor - und kurz darauf die Nanny ihrer Kinder. «Mein Vater ist gestorben, und dann etwa acht Monate später eine meine liebsten Freundinnen. Und ich frage mich: Wo seid ihr? Wo seid ihr hingegangen? Wo ist eure Seele hingegangen? Ich vermisse euch!» Glaubt sie an ein Leben nach dem Tod? «Ja, ich denke schon.»

Demgegenüber steht dynamischer Pop wie der mutmachende Titelsong mit fetten Synthesizern und EDM-Beats. «Trustfall» ist übrigens das englische Wort dafür, sich gezielt fallen zu lassen in der Annahme, von anderen aufgefangen zu werden - so wie man es etwa von Teambuilding-Massnahmen kennt.

Fallen lassen, Vertrauen wagen - damit beschreibt sie nach eigener Aussage ihren aktuellen Lebensabschnitt. «Ich habe das Gefühl, als Mensch braucht man derzeit viel Vertrauen», sagt Pink. «Im Beziehungsleben, als Eltern, als Kind, wenn man sein Kind an der Schule absetzt, wenn man zur Wahl geht, sogar wenn man eine eigene Meinung hat - oder eine Vagina. Alles braucht Vertrauen.»

Die Überraschung des Albums ist «Runaway», ein mitreissender, moderner Synthie-Popsong. Damit folgt Pink dem an die 1980er Jahre angelehnten Retro-Wave-Trend, mit dem The Weeknd («Blinding Lights») oder die aufstrebende US-Band The Midnight («Days Of Thunder») zuletzt grossen Erfolg hatten. «Die 80er haben so viel Spass gemacht, so einfach ist das», sagt sie. «Alles war gerade so ernst in der Welt. Ich wollte einfach ein bisschen Spass haben und einfach tanzen.»

Hingegen singt sie in «Hate Me» und «Lost Cause» - mit teils sehr deutlichen Worten - über das bittere Ende einer Beziehung. Woher nimmt die zweifache Mutter, die seit über 20 Jahren mit dem Vater ihrer Kinder, Ex-Motorrad-Profi Carey Hart, liiert ist, die Inspiration? «Oh nein, diese Lieder sind über Carey», stellt sie klar und lacht. «Ich bin jetzt seit 17 Jahren verheiratet. Manchmal möchte ich diesen Typen treten! Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie es erst sein muss, mit mir verheiratet zu sein.»

Passend dazu endet die neue LP mit «Just Say I’m Sorry», einem Duett mit Chris Stapleton, das quasi der versöhnliche Abschluss der von ihr beschriebenen «emotionalen Reise» ist. Weitere Gäste auf dem Album sind The Lumineers und das schwedische Duo First Aid Kit.

Mehr als 20 Jahre nach ihrem Debüt «Can’t Take Me Home» zeigt Pink mit «Trustfall» erneut, warum sie zu den grössten Stars der Popmusik zählt. Radiotaugliche Pophits und ergreifende Balladen sind ihre Spezialität. Der Stoff für authentische Texte geht der dreifachen Grammy-Gewinnerin garantiert auch in Zukunft nicht aus.

Im Sommer wird sie ihre neuen Lieder sowie frühere Hits wieder live singen. Im Rahmen ihrer «Summer Carnival»-Tour gibt Pink rund 20 Konzerte in europäischen Stadien und auf Freilichtplätzen. In Deutschland sind im Juni und Juli Auftritte in Hannover, Köln, Berlin und München geplant. Was ihre Fans erwartet: «Das reine Chaos», sagt Pink. «Es wird ein grosser Spass werden. Ich freue mich schon sehr.»

13. Shania Twain: Queen Of Me

Die Hits «That Don’t Impress Me Much» und «Ka-Ching» von Sängerin Shania Twain kennt fast jeder. Nun veröffentlicht die Kanadierin ihr sechstes Album und das ist erneut von Pop geprägt - und selbstbewussten Texten.

Shania Twain wirbelt in den 1990er Jahren den männerdominierten Countrymarkt in Amerika durcheinander und verleiht ihm eine deutliche Pop-Note. Auf ihrem sechsten Studioalbum «Queen Of Me» setzt die 57-Jährige musikalisch und textlich auf Altbewährtes.

Die in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Eilleen Regina Edwards singt schon mit acht Jahren in Bars ihrer kanadischen Heimatstadt. Nachdem die Eltern bei einem Autounfall sterben, kümmert sie sich mit 22 Jahren um ihre jüngeren Geschwister. Jahre später bekommt sie den ersten Plattenvertrag und legt sich einen Künstlernamen zu: Shania Twain.

Die ersten drei Alben der Musikerin schlagen ab 1993 nicht nur in der Countrybranche hohe Wellen. Twain verkörpert in ihren Texten und Musikvideos das Bild einer selbstbewussten, unabhängigen Frau - und verkauft damit Millionen Platten. Songs wie «That Don’t Impress Me Much» und «Man! I Feel Like A Woman» werden auch in Europa zu Hits. Dort werden die Alben neu abgemischt, um auch dem countryfernen Publikum zu gefallen.

Mehr Pop, weniger Country - durch dieses Erfolgsrezept, das Jahre später auch Taylor Swift zum Megastar macht, reitet Twain beruflich auf einer Erfolgswelle. Privat ist sie mit Ehemann und Produzent Mutt Lange glücklich. Bis 2003. Da wird die Pferdenärrin beim Reiten von einer Zecke gebissen und leidet an den Folgen einer Lyme-Borreliose. «Ich dachte, ich hätte die Stimme für immer verloren und könne nie wieder singen», erzählt Twain 2022 in einer Netflix-Doku. In dieser Phase betrügt sie ihr Ehemann mit ihrer besten Freundin. Die Sängerin reicht die Scheidung ein. Ein doppelter Rückschlag. Erst Jahre später kämpft sie sich zurück, bekommt eine eigene Show in Las Vegas und verarbeitet 2017 auf ihrem Album «Now» das Ende ihrer Ehe.

Die zwölf Lieder auf dem neuen Album «Queen Of Me» zeigen die Crossover-Künstlerin erneut von ihrer selbstbewussten Seite. «Ich bin eine Königin. Ich brauche keinen König. Also behalte deinen Ring», heisst es übersetzt im Titelsong. Oder in «Not Just A Girl»: «Ich werde die Welt regieren. Ich bin nicht nur ein Mädchen.»

«Ich war immer sehr deutlich und klar, in dem, was ich denke und was meine Standpunkte sind», sagt die fünffache Grammy-Gewinnerin. «Ich bin mein eigener Boss und trage die Verantwortung dafür, was ich denke, sage und mache. Ich werde mich nicht unterkriegen und schikanieren lassen.»

Musikalisch wechseln sich auf Twains neuem Album melancholische Balladen («The Hardest Stone») und poppige Up-Tempo-Nummern ab, wie «Pretty Liar» und «Inhale/Exhale Air», das von ihrer schweren Covid-Erkrankung handelt. Von Countrymusik ist dabei nicht mehr viel zu hören - wirklich überraschende und überragende Songs fehlen.

Nach all den Schicksalsschlägen scheint es der Kanadierin wieder gut zu gehen. Mit ihrem zweiten Ehepartner, dem Schweizer Geschäftsmann Frédéric Thiébaud, lebt sie vorwiegend am Genfer See - zusammen mit mehreren Hunden und natürlich Pferden.

Die lässt sie ab April für einige Monate alleine, wenn sie auf grosse Tour geht. In Europa stehen (bislang) allerdings nur Termine in Grossbritannien und Irland fest.

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