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Literatur

Autofiktionale Bücher sind fantasielos – warum fesseln sie uns trotzdem? 

Hat Selbstanalyse die Fantasie abgelöst? Seit dem Erfolg von Karl Ove Knausgard und Annie Ernaux ist Autofiktion ein Grosstrend der Gegenwartsliteratur. Auch bei zwei wichtigen Neuerscheinungen dieses Bücherherbsts von Edouard Louis und Heinz Helle handelt es sich um solche als Roman getarnte Tagebuch-Literatur. 

Autor Heinz Helle schreibt über seine Existenz als trauriger Hausmann.
Bild: Claudio Thoma

Was ist nur mit der Gegenwartsliteratur los? Hat die soziologische Gesellschaftsanalyse am Beispiel des eigenen Lebens, hat das intime Tagebuch, hat die statt auf der Psycho-Couch am Schreibtisch stattfindende Selbstanalyse die Lust am Fabulieren abgelöst, gar beerdigt? Liest man sich durch diesen Bücherherbst, kann man sich schnell ärgern. Da bedrängen uns die Literaturschaffenden mit ihren Lebensgeschichten. Und man möchte ihnen zurufen: Erzählt das doch euren Freunden oder schreibt von mir aus Ratgeberkolumnen! Uns Literaturfans aber zeigt bitte lieber euer Talent, Geschichten zu erfinden, statt uns eure Egozentrik und Welterklärungen aufzudrängen.

Und hört auf, jedes Tagebuch mit dem alten, ehrwürdigen Begriff «Roman» anzukündigen. Diese Gattung war mal reserviert für Fiktion, also für das urmenschliche Vermögen, über die eigenen Erfahrungen hinaus etwas zu erfinden. So wie das Kunstschaffende, also etwa Komponistinnen und Maler, ja auch tun. Ohne Fiktion gäbe es keinen Don Quichotte, keinen Hamlet, keine Madame Bovary, keine Malina.

Warum also ist autofiktionale Literatur à la Karl Ove Knausgard oder Annie Ernaux derzeit so en vogue? Liegt das an der selbstverliebten Generation Social Media? Gibt es schlicht zu wenig packende Romane, sodass man lieber gleich zum realen Leben greift? Oder verbinden sich hier Essay und Lebensbeichte und treffen einen Nerv der Zeit, nämlich die erfahrungsgesättigte sozio-politische Diskussion? Kurz: Wird damit die Sehnsucht nach Authentizität in gesellschaftlichen Diskursen verwirklicht?

Auffällig ist jedenfalls, dass der autofiktionale Roman sehr nahe an das Storytelling der journalistischen Reportage und des Essays kommt. Vielleicht liegt man mit seinem Ärger über die Fantasielosigkeit vieler Gegenwartsautorinnen und -autoren auch komplett falsch. Schliesslich schreiben sie über dringliche Themen: sozialer Aufstieg, Abtreibung, Depression, Vater- und Mutterschaft, das Elend des Arbeitermilieus, Rassismus, Internat, Krebs. Und ehrlicherweise muss man sich eingestehen: Die besten Bücher dieses Genres sind wahre Nächteverschlinger, will sagen, Pageturner mit hoher Energie und Dringlichkeit. Viele der fesselndsten Texte sind heute autobiografischer Natur.

Edouard Louis: Das homosexuelle Arbeiterkind kämpft sich nach oben

Ein solcher Autor ist Edouard Louis, der zornige Shootingstar der französischen Literatur. Sein neues Buch «Anleitung ein anderer zu werden» ist eines, das man in einer langen Nacht nicht aufhören kann zu lesen. Vielleicht so, wie man Dostojewski gelesen hat, weil darin ein vibrierendes Leben so schamlos offen vorantreibt – als beklemmend offene Wunde mit heftigem Zweifel, Selbsthass, Ekel und Eitelkeit und mit einer ungeheuer präzisen Sprache. Er ist in seiner Schamlosigkeit, der Aufarbeitung der eigenen Biografie und im zornigen Appellcharakter geradezu typisch für die Selbstermächtigung und Selbstklärung im Schreiben, das die autofiktionalen Romane der jüngsten Zeit auszeichnet.

Dass er als Schwuler, Arbeiterkind und Provinzler eine Biografie der dreifachen Unterdrückung schildert, macht ihn zudem zur idealen Identifikationsfigur einer Emanzipationsbewegung und einer politischen Kritik. Sein mit rabiaten Mitteln durchgesetzter Aufstiegsdrang gibt seinem Bericht ausserdem das nötige Spektakel – sowohl was seine körperliche Verwandlung mit Schönheitsoperationen, die Wut auf die Herkunft und die verzweifelte Selbstdisziplin betrifft wie auch das Gesellschaftsbild, das er dank vieler Begegnungen mit Intellektuellen, zynischen Mäzenen und brutalen Freiern zeichnet.

Heinz Helle: Der Schriftsteller als depressiver Hausmann

Heinz Helles aktuelles Buch «Wellen» erzählt im grösstmöglichen Kontrast zu Edouard Louis' Aussteiger- und Aufstiegsbericht von kleinräumig-häuslicher Depression. Er steckt nämlich fest. Während seine Frau ausser Haus ihrer Schriftstellerei nachgeht, kocht und putzt er, füttert und wickelt den Säugling, begleitet das Kindergartenkind auf den Spielplatz. Und vor allem hadert er 300 Seiten lang mit seinem Hausmanndasein. Er fragt sich etwa, ob er im Badezimmer onanieren darf, während der Säugling im Wohnzimmer schläft. Ein Mann in Alltagsnöten also.

Generationen von Schriftstellern ignorierten in ihren Romanen diese häuslichen, familiären Tätigkeiten. Heinz Helle wirft sich geradezu heldenhaft in sie hinein. Der Ich-Erzähler sieht sich im zeitgenössischen Männerdilemma. Er möchte nett, friedfertig und warmherzig sein, spürt aber immer wieder Wut, Frustration und latente Gewaltbereitschaft. Dass er als Deutscher mit einer historischen Last beladen ist, reflektiert er genauso wie er zeitgenössische Debatten durchkaut: Patriarchat und Gewalt, Klima und Corona. Kopf und Bauch, Herz und Libido finden sich bei ihm im ständigen Widerstreit.

Helle hat für dieses atemlose Tagebuch eine passende Form gefunden, die Aneinanderreihung von Ein-Satz-Kurzabschnitten, die fast immer so beginnen: «Und ich versuche ...», «Und dann putze ich ...», «Und dann höre ich sie schreien ...», «Und dann meine ich ...». Das Leben als Hausmann ruckelt fremdgesteuert von einer Alltagspflicht zur nächsten. So wie er sein Leben als gegängelter Diener des Alltagstrotts empfindet, hängt er die Dramaturgie seines Berichts auch an die Strickleiter unendlich monotoner Kleinstschritte, die ihn erst gegen Ende in eine Art Versöhnung stimmen.

Fehlt bei all dem nicht die Erfindung dessen, wie das Leben auch noch sein könnte? Eine Utopie? Eine Dystopie? Das Glück eines Alter Egos? Dürfen solche Protagonisten nicht auch mal zum Mörder oder zum glücklichen Familienmenschen werden und damit den Realismus überwinden?

Edouard Louis: «Anleitung ein anderer zu werden». Aus dem Französischen von Sonja Finck. Aufbau Verlag, 272 Seiten. Heinz Helle: «Wellen». Suhrkamp, 284. Seiten.

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