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Wieso Nina Christen die Bronzemedaille weggesperrt hat, um Gold zu gewinnen

Die 27-jährige Innerschweizer Schützin Nina Christen ist Olympiasiegerin im Dreistellungsmatch mit dem Kleinkalibergewehr. Sie ist die erste Schweizer Sportlerin überhaupt, die bei Olympischen Sommerspielen zwei Einzelmedaillen gewinnt.
Nina Christen holt sich die Goldmedaille mit dem Kleinkalibergewehr. (Alex Brandon / AP)
Erster Schweizer Olympiasieg im Schiessen seit 1948. (Peter Klaunzer / KEYSTONE)
Nina Christen jubelt nach ihrem letzten Schuss. (Alex Brandon / AP)
Nina Christen total im Fokus auf ihre Aufgabe. (Peter Klaunzer / KEYSTONE)
Eine Träne des Glücks bei Nina Christen. (Alex Brandon / AP)

Rainer Sommerhalder

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Nina Christens Aussagen lassen erahnen, welch anspruchsvoller mentaler Weg für sie bis zum Gewinn der Goldmedaille zu gehen war. Die 27-Jährige selbst hat dabei die Ansprüche an sich in maximale Höhen getrieben. Nach der überraschenden Bronzemedaille mit dem Luftgewehr vor einer Woche bei der allerersten Titelentscheidung in Tokio sagte sie mit Blick auf ihre Paradedisziplin: «Ich habe das Gefühl, nur Silber oder Gold würde die Bronzemedaille rechtfertigen.» Damit setzte sie sich unter enormen Druck.

Kein Wunder, fühlte sich die Europameisterin von 2019 vor dem Kleinkaliber-Wettkampf mental «nicht ganz frisch». Schliesslich war auch die Verarbeitung von Emotionen und Eindrücken nach der Bronzemedaille mit dem Luftgewehr kein Selbstläufer. «Diese Bronzemedaille mit dem Luftgewehr kam unerwartet. Sie hat in mir enorm viel ausgelöst», sagte Christen.

Christens Gedanken spielten Achterbahn. Sie sei ja eigentlich nach Tokio gereist, um im Kleinkaliber-Wettkampf zu brillieren, dachte sie. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch die vielen Gratulanten nach Luftgewehr-Bronze, die ihr schrieben «jetzt erst recht».

Christen war klar, dass sie irgendwie von diesen Gedanken wegkommen musste. Als Symbol sperrte sie sogar die Bronzemedaille weg in einen Safe. «Aus den Augen, aus dem Sinn», lautete im wahrsten Sinne das Ziel dieser Aktion.

Noch während des Qualifikationswettkampfs kämpfte sie mit der Konzentration. «Ich fühlte mich am Morgen noch nicht richtig sortiert und auch während des Wettkampfs gingen mir sehr viele Gedanken durch den Kopf.» Es brauchte einen Endspurt im Stehendschiessen, damit es Christen überhaupt in den Final der besten Acht schaffte.

Unglaubliche Nervenstärke im entscheidenden Moment

Doch wie bereits bei ihrem ersten Exploit steigerte sich Christen im Verlauf des Wettkampfs stetig und war bei den entscheidenden 15 Schüssen stehend die stärkste Athletin im Kopf. Sie habe es geschafft, die Zweifel vor dem Final zu deponieren. «Schliesslich hatte ich nach der Finalqualifikation nichts mehr zu verlieren.»

So ruhig, wie Christen gegen aussen wirkte, war es in ihr drin aber auch während des Finals nicht. «Ich spürte meinen Puls am Hals ziemlich stark. Das ist sehr unangenehm, aber es gibt nichts anderes, als es auszuhalten», sagte sie.

Nach dem Start kniend lag Christen auf Platz 5, ebenso nach der liegend-Serie. Die Zeitsoldatin mit einer Anstellung seit 2017 in Magglingen blieb aber stets in Tuchfühlung mit den Podestplätzen. An der Spitze schien die Russin Julia Zykowa indes uneinholbar.

Doch dann kam die Zeit von Nina Christen. Wie bereits in der Qualifikation brillierte die Weltranglisten-Dritte stehend mit einer schier unglaublichen Zehner-Serie. Nach 12 von 15 Schüssen hatte sie die russische Konkurrentin bereits eingeholt. Und auch in der K.o.-Phase hielt die Frau aus Wolfenschiessen im Kanton Nidwalden ihr extrem hohes Niveau und erzielte letztlich einen Olympischen Rekord. «Ich bin megazufrieden mit der Arbeit, die ich heute abgeliefert habe», lautete das durch und durch nüchterne Fazit ihrer Wettkampfleistung.

Eine doppelt historische Leistung

Mit dieser Goldmedaille leistet Christen in verschiedener Hinsicht Historisches. Sie ist die erste Schweizer Olympiasiegerin im Schiessen seit Emil Grünig an den Sommerspielen 1948 in London. Ein hübsches Detail am Rande. Ihr Olympiagewehr hat Nina Christen aus dem Fachgeschäft von Grünigs Enkel in Malters.

Und sie ist die erste Schweizer Sportlerin, die bei denselben Olympischen Sommerspielen zwei Medaillen in einer Einzeldisziplin gewinnt. Doppelte Podestplätze schafften die Dressur-Reiterin Christine Stückelberger 1976 sowie Fechterin Gianna Hablützel-Bürki 2000 jeweils im Einzelbewerb und mit dem Team sowie Belinda Bencic in Tokio im Einzel und Doppel.

Nina Christen, das frühe Talent, verblüffte ihre Trainer bereits während den sportlichen Anfängen mit elf Jahren immer wieder. Motiviert durch ihren ebenfalls schiessenden Vater entschied sich die junge Frau später, ihr Studium in Biologie zugunsten des Sports abzubrechen und voll auf die Karte Schiesssport zu setzen. Auch dies ein Weg, der mentaler Stärke bedarf.

Nicht alle in ihrem Umfeld begriffen, wie man einen verheissungsvollen beruflichen Weg zugunsten einer Randsportart aufgeben kann. Wie wenig der Schiesssport im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, unterstrich auch eine Szene nach dem Gewinn der Goldmedaille. Da bedankte sich Nina Christen bei den wenigen anwesenden Journalisten in der Schiesshalle persönlich für ihr Kommen.

Bereits bei ihrer Olympia-Premiere 2016 in Rio lag Christen im Dreistellungsmatch sensationell auf Goldkurs. Damals hielt das Nervenkostüm im Stehendschiessen noch nicht stand und die zusammen mit ihrem Freund in Immensee im Kanton Schwyz wohnende Sportlerin fiel noch auf Platz 6 zurück.

Inzwischen hat sich die Nidwaldnerin in der Weltspitze etabliert. Um ihre Auszeichnungen stilgerecht zu präsentieren, hat ihr Vater - ein gelernter Holzbildhauer - Nina Christen einen Kranzkasten gezimmert. Dorthin kommen auch die zwei Olympiamedaillen von Tokio. Und vielleicht muss Christen bei ihrem Vater bald ein grösseres Modell bestellen. Angesichts ihrer vielen Erfolge habe sie inzwischen im Kranzkasten bereits wieder mit aussortieren beginnen müssen.

Christen wird am Montagnachmittag in Kloten landen. Sie kann sich eines begeisternden Empfangs durch die grosse Schweizer Schützenfamilie im Flughafen gewiss sein:

Dass Nina Christen als Olympiasiegerin künftig zur Schweizer Sportprominenz gehören wird, macht Nina Christen nicht nervös. «Ein Star bin ich auch jetzt noch nicht. Aber im Fokus zu stehen ist sicherlich etwas Neues für mich.»

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