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Mountainbike

Durch tiefe Täler zum grossen Wurf

Jolanda Neff erklimmt in Tokio den Mountainbike-Olymp, fünf Jahre später als geplant und unter ungünstigen Vorzeichen. Wahrscheinlich gelingt es ihr genau deshalb. Der lähmende Druck ist weg.
Am Ziel der Träume: Jolanda Neff winkt mit Olympiagold um den Hals vom Siegertreppchen
Bild: KEYSTONE/AP/Christophe Ena

Und plötzlich fährt sie wieder vorne weg. Ein Blitzstart zu Beginn, hohes Tempo auf den ersten Kilometern, langer Alleingang bis zum Triumph. Während sich die Konkurrenz mehr schlecht als recht über die Hindernisse müht, sieht es bei Jolanda Neff aus wie ein Kinderspiel. Dabei hat es der Olympiakurs in den Vulkanhügeln der Halbinsel Izu in sich. Regen in der Nacht hat den ohnehin anspruchsvollen Parcours noch schwieriger werden lassen.

Die Bilder der vorneweg ziehenden Jolanda Neff sind durchaus vertraut. Doch die letzten solchen sind lange her, und sie stammen nicht von den wichtigsten Rennen.

Wiederholt machten Neff in der Vergangenheit in den wichtigsten Prüfungen verschiedene Umstände einen Strich durch die Rechnung, so auch 2016 an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro. Sechste wurde Neff vor fünf Jahren in Brasilien - eine grosse Enttäuschung für die damals erfolgsverwöhnte Ostschweizerin, die als Topfavoritin ins Rennen gegangen war, die den Rummel um ihre Person im Vorfeld aber nicht ohne Energieverlust wegsteckte.

Sie wollte den Fünfer und das Weggli

Zweimal hatte Neff in den Jahren vor Rio den Gesamtweltcup für sich entschieden. Das Energiereservoir schien unerschöpflich, der Tatendrang war immens. Neff trat an allen möglichen Rennen an: mit dem Mountainbike im Cross-Country und über die Marathon-Distanz, mit den Rennvelo auf der Strasse und auch in Rio, dazu im Radquer. "Ich nehme gerne den Fünfer und das Weggli", sagte sie damals unverfroren.

Dass sie damit auf eine Wand zusteuerte, merkte Neff erst in den Tagen vor Rio. An ihren ersten Olympischen Spielen bestätigte sich dann, was sich im Vorfeld abgezeichnet hatte: dass sie sich übernommen hatte, dass sie sich ihrer grossen Leidenschaft zu sehr verschrieben, sie ihr Leben neben dem Sport vernachlässigt und die Signale des Körpers ignoriert hatte. "Steil aufgestiegen, hart gelandet" lautete eine Schlagzeile damals.

Rückblickend räumte Neff ein, zu jenem Zeitpunkt nahe an einer Depression gewesen zu sein. Sie schilderte, wie sie in ihrem Hamsterrad das Sozialleben vernachlässigte und erst später erkannte, wie viel Energie ihr die richtige Balance gibt und wie wenig Technik und Ausdauer nützen, wenn es im Kopf nicht stimmt.

Um wieder in die Spur zu finden, verschob Neff temporär den Fokus. Sie begann ein Studium mit Schwerpunkt Geschichte, zog in eine WG und erlangte den Bachelor. Der Szenenwechsel half, doch er liess sich auf Dauer nicht mit den sportlichen Zielen vereinbaren. Also setzte Neff wieder voll auf die Karte Sport - und zog die richtigen Schlüsse.

Das wertvolle Extrajahr

Nun funkten Verletzungen dazwischen. Vor allem der Trainingssturz Ende 2019 bedeutete eine Zäsur. Es war kein schlimmer Sturz, aber die Landung im spitzigen Geäst umso brutaler. Aufgrund eines Milzrisses, gebrochener Rippen und eines Lungenkollapses war die Fortsetzung der Karriere zwischenzeitlich ungewiss. Durch die Verschiebung der Olympischen Spiele erhielt Neff ein Jahr mehr Zeit. Zeit, die sie offensichtlich optimal nutzte.

Im Olympiarennen 2021 ist Jolanda Neff am Tag X trotz eines Handbruchs, den sie sich sechs Wochen zuvor zugezogen hat, voll auf der Höhe. Jetzt kommt ihr zugute, dass sich die Blicke weniger auf sie richten als vor Rio, dass sie aus der Position einer Aussenseiterin angreifen kann, befreit von jeglichem Druck.

"Es fühlt sich viel besser an als vor Rio. Ich gehe ganz ohne Erwartungen ins Rennen, weiss aber, dass ich immer noch alle Chancen habe", sagte Neff im Vorfeld. Es ist genau jene Formel, die die St. Gallerin für ihren grössten Wurf gebraucht hat. (sda)

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