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Rudern

"Alles, was noch kommt, ist ein Bonus"

Jeannine Gmelin bereitet sich auf dem Rotsee auf die Europameisterschaften von Mitte Oktober im polnischen Poznan vor. Ein Trainingsbesuch.
Jeannine Gmelin bereitet sich auf dem Rotsee auf die EM in Polen vor
Bild: KEYSTONE/URS FLUEELER

Es ist 8.15 Uhr. Jeannine Gmelin wärmt sich im Ruderzentrum Luzern-Rotsee für eine harte Krafteinheit auf. Eine Übung danach sah folgendermassen aus: Sie absolvierte unter den Augen ihres Privattrainers Robin Dowell auf einem Schwungradgerät (Exxentric kBox) während 30 Sekunden Kniebeugen, ehe sie mit dieser Vorermüdung auf dem Ruder-Ergometer zunächst Schwung holte und dann sechsmal so kraftvoll wie möglich zog – die Werte wurden selbstredend gemessen. Die Übung machte sie mit Pausen dazwischen viermal. Mit einem Training wie am Samstagmorgen soll erreicht werden, dass Gmelin ihre maximale Leistung länger aufrechterhalten kann.

Das Schwungradgerät - je mehr Kraft investiert wird, desto grösser ist die Beschleunigung des Rades - hat sie sich wie andere Trainingsutensilien in diesem Jahr Corona-bedingt neu zugelegt, und zwar als sie in Slowenien war. Dort trainierte sie von Mitte März bis Mitte Juni. "Robin ist einer, der sehr innovativ ist, der sich selber stets weiterbilden und bezüglich der Trainingsphilosophien und Technologien immer auf dem neusten Stand der Entwicklungen sein will", sagt Gmelin.

Und da die 30-jährige Zürcher Oberländerin nach den vielen Jahren mit konventionellem Krafttraining merkte, dass sie andere Reize setzen musste, um Fortschritte zu machen, suchten die beiden nach neuen Möglichkeiten wie das Schwungradgerät. "Ich habe gut darauf angesprochen", so Gmelin. "Ich sehe, dass ich schneller, stärker und effizienter geworden bin." Schliesslich sei nicht nur die rohe Power entscheidend, sondern dass es ihr im Boote helfe. "Sonst ist die dazugewonnene Muskelmasse leeres Gewicht, das ich nicht vorwärts bringe."

Das Bootshaus, in dem Gmelin die Krafteinheit absolvierte, wurde ihr vom Schweizer Ruderverband kostenlos zur Verfügung gestellt. Es ist für sie die perfekte Lösung, auf dem Rotsee trainieren zu können, zumal ihr Wohnort Sarnen in der Nähe liegt. Die Wogen nach der Loslösung von Swiss Rowing Anfang 2019 aufgrund der Entlassung des damaligen Nationaltrainers Dowell haben sich inzwischen geglättet, worüber sie erleichtert ist. Als sie in Slowenien war, erkundigte sich Verbandsdirektor Christian Stofer regelmässig über ihr Befinden. "Ich hatte einen guten Austausch mit ihm", erzählt die Weltmeisterin von 2017.

Nun freut sich Gmelin auf die Schweizer Meisterschaften vom 18. bis 20. September auf dem Rotsee, ihrem ersten Wettkampf seit den Trials Mitte März. Die Titelkämpfe sind für sie die optimale Vorbereitung auf die vom 9. bis 11. Oktober neu angesetzten Europameisterschaften. Der Zeit ohne Rennen gewinnt sie allerdings auch Gutes ab, wie auch der Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio um ein Jahr. "Ohne Stress und Wettkampfdruck zu trainieren, mich auf verschiedenen Ebenen selber weiterzuentwickeln, das fand ich sehr positiv", sagt Gmelin. "Robin und ich nutzten die Zeit konstruktiv, bildeten uns gemeinsam weiter, machten Analysen. Ich hatte nie Motivationsprobleme. Ich vermisste die Wettkämpfe weniger als vielleicht andere."

Dass Tokio auch 2021 nicht gesichert ist, dessen ist sich Gmelin bewusst. "Ich gehe stark davon aus, dass die Olympischen Spiele nicht so stattfinden können, wie wir es uns gewohnt sind. Entweder gehen sie in einer sehr abgespeckten Form über die Bühne oder gar nicht. Das Ziel bleibt aber das Gleiche. Ich will alles geben und jeden Tag das Beste aus mir herausholen. Wenn ich weiss, dass ich alles Mögliche gemacht habe, dann ist es zweitrangig, ob die Olympischen Spiele durchgeführt werden. Den Weg dorthin habe ich ohnehin nicht umsonst zurückgelegt, ich werde so oder so viel dabei lernen. Insofern könnte ich eine Absage, glaube ich, irgendwie akzeptieren."

Allerdings wäre in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit grösser, dass Gmelin noch bis zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris weitermachen würde. Mit dem wichtigsten Anlass für einen Ruderer aufzuhören, wäre für sie ein "schöner Abschluss". Sie könnte aber gut damit leben, wenn es anders kommt, da sie in ihrer Karriere schon mehr als erhofft erreicht hat. "Alles, was noch kommt, ist ein Bonus", stellt Gmelin klar. Jedoch wisse man aktuell nicht einmal, was in zwei Wochen sei. "Deshalb versuche ich Tag für Tag zu nehmen, das hat mich ziemlich gut durch die Corona-Situation gebracht."

So stand am Samstagnachmittag noch eine zweite, sehr unangenehme Einheit auf dem Programm - insgesamt trainiert sie pro Woche zwischen 20 und 27 Stunden, zu etwa 90 Prozent im Grundlagenbereich. Gmelin absolvierte auf dem Air Bike siebenmal drei Minuten mit abgebundenen Beinen - bekannt als Okklusionstraining. In den jeweils eine Minute dauernden Pausen wurde der Blutkanal geöffnet. Ein weiteres Puzzleteil auf dem Weg, den Traum einer Olympia-Medaille zu verwirklichen. (sda)

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