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Rio

Die Stadien sind nicht so leer, wie immer wieder behauptet

Sind die Zuschauerzahlen nun gut oder schlecht? Die Mär von leeren Stadien bei Olympia hält sich hartnäckig. In den Arenen bietet sich hingegen meist ein anderes Bild. Rio de Janeiro und die brasilianischen Fans sorgen für wilde Spiele.
Das brasilianische Volleyball-Team bedankt sich bei den Fans für die Unterstützung.
Bild: EPA / Orlando Barria

Rolf Bichsel (sda), Rio de Janeiro

Der erste Eindruck zählt. Die erste Übertragung aus Rio, das Fussballspiel der Frauen zwischen Südafrika und Schweden, fand vor leeren Rängen statt. Als es im Tennis bei Timea Bacsinszky/Martina Hingis um Medaillen ging, schaute niemand zu. Geraten die Zuschauerzahlen in Rio zum Flop?

Mitnichten! Für die meisten schlechtbesuchten Events gibt es Erklärungen. Womöglich ist Frauenfussball ohne brasilianische Beteiligung als Aufgalopp für einen Giga-Event wie Olympia mit Stars wie Usain Bolt, Michael Phelps oder Novak Djokovic nicht attraktiv genug. Womöglich würden sie nicht einmal in Wimbledon Frauen-Doppel schauen, wenn auf dem Court nebenan Rafael Nadal Einzel spielt.

Das Tennisturnier zeigt die Ticket-Problematik bei Olympia gut auf. Da gibt es einerseits die Schweizer Reisegruppe, die sich den Halbfinal von Bacsinszky/Hingis ansehen wollte, aber keine Tickets kaufen konnte und dann von ausserhalb des Geländes feststellen musste, dass die Ränge leer blieben. Auf der anderen Seite sagt René Stammbach, Vizepräsident des internationalen Verbandes, dass das Tennisturnier an den letzten drei Tagen komplett ausverkauft war.

15'000 Tickets pro Tag wurden fürs Tennis verkauft. Diese Tickets garantierten Einlass auf den Centre Court oder Court 1. Gespielt wurde aber auf bis zu acht Plätzen. Und gespielt wurde ab Mittag bis spätabends. Die 15'000 Zuschauer sorgten für ein Riesenspektakel. Sie waren vor Ort. Aber das Schweizer Doppel spielte den Halbfinal am Abend, lange nach den Highlights, oder am Mittag, lange vor dem Höhepunkt (Männer-Final). Als Bacsinszky/Hingis spielten, waren die Fans schon wieder weg (Freitag) oder noch nicht da (Sonntag).

«Es ist schade, dass ein Doppel-Final vor praktisch leeren Rängen stattfindet», meinte Ralph Stöckli, der Schweizer Chef de Mission, der aber auch weiss, dass Derartiges an Olympischen Spielen vorkommt. Stöckli: «Im Gegenzug war das Beachvolleyball-Stadion ein Hexenkessel!»

Das Getue an der Copacabana widerspiegelt das Fan-Verhalten in Rio besser als das Gejammere, selbst vom IOC, über halbvolle Ränge. Trotz aller Probleme, die Brasilien plagen, leben die Leute Olympia. Die heimischen Fans in Fussballtrikots lassen in den Stadien Partys eskalieren. Bei der Eröffnungsfeier erhielt sogar IOC-Präsident Thomas Bach Applaus. Die russische Delegation wurde beim Einmarsch ins Maracanã nicht ausgepfiffen. Die einheimischen Sportler werden vergöttert. Aussenseiter werden geliebt. Gehasst werden nur die Argentinier und die Punktrichter.

Der brasilianische Military-Teilnehmer Ruy Fonseca ist nicht gerade ein Reiterass. An einem Hindernis wurde er abgeworfen, sein Pferd «Tom Bombadill Too» entwischte und suchte sich seinen eigenen Parcours. Nun flippten die brasilianischen Fans erst recht aus: Unter wildem Applaus wurde das Tier eingefangen; Fonseca verliess die Arena zu Fuss, aber als Held. Wenn die Brasilianer einen verpatzten Auftritt derart abfeiern, wie geht es dann erst bei einer Goldmedaille ab, gar von einer Carioca gewonnen, wie Einheimische genannt werden? Die Antwort gaben die Zuschauer beim Judo, als Rafaela Silva, ein Mädchen aus den Favelas, Gold holte. «Brasil, Brasil»-Rufe, Lieder, immer wieder aufbrausender Jubel, Geschrei - das Publikum war nicht mehr zu beruhigen.

Nadal kann von den Fans ebenfalls ein Lied singen. Im Viertelfinal gegen den Brasilianer Thomaz Bellucci kämpfte er gegen 9000 Zuschauer, die ihrem Landsmann mit unsportlichsten Mitteln zu helfen versuchten. Einen Tag später unterstützten die gleichen Fans Nadal gegen Del Potro genauso frenetisch und mit fragwürdigen Mitteln. Nadal weiss, warum das so war: «Die Fans lieben nichts mehr als die eigenen Sportler. Und sie hassen nichts mehr als die Argentinier.» Bei Del Potros Zweitrundenspiel brach auf der Tribüne sogar eine Prügelei zwischen brasilianischen und argentinischen Fans aus.

Nebst den Argentiniern hat nur die Obrigkeit in Form von Punktrichtern bei den Fans einen sehr schweren Stand. Beim Synchronspringen vom Zehnmeterturm zeigte das brasilianische Duo zwei Sprünge, die weder synchron noch besonders schwierig waren. Die schlechten Noten nahmen die Fans dennoch nicht hin. Bei jeder Benotung bis Ende Wettkampf wurden die Richter konsequent ausgebuht.

Wilde Spiele eben. Aber leere Ränge? «An einigen Anlässen hätten wir mehr Zuschauer erwartet», räumt das Organisationskomitee ein. Schuld daran tragen aber nicht die brasilianischen Fans, sondern die Touristen. Die Vorwarnungen wegen der Kriminalität in Rio und das Märchen vom Zika-Virus (Timea Bacsinszky: «Nach fast zwei Wochen in Rio weiss ich: Es gibt keine Mücken in Rio») haben die Olympia-Touristen abgeschreckt: Mit einer Million Besucher rechnete das OK, gekommen sind nur 300'000 bis maximal 500'000.

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