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Heute vor 38 Jahren

Eine Schande als Innovator

Am 25. Juni 1982 liefern sich Deutschland und Österreich in Spanien das bekannteste 1:0 in der Geschichte einer Fussball-WM. Die "Schande von Gijon" verändert das wichtigste Sportturnier der Welt.
Der Ball fliegt nach dem Kopfball von Horst Hrubesch ins Tor, danach spielen Deutsche und Österreicher kaum noch Fussball
Bild: KEYSTONE/AP

Die historische Komponente eines Fussballspiels erkennt man an seinem Untertitel. Der Halbfinal zwischen Brasilien und Deutschland an der WM 2014 erhielt die Unterzeile "Sete a um", das "Wembley-Tor" betitelt den WM-Final 1966 zwischen England und Deutschland, und Argentiniens 2:1 über England 1986 in Mexiko wurde durch den Begriff "Die Hand Gottes" geprägt. Den Charakter des WM-Endrunde in seinen Grundzügen zu verändern, schaffte allerdings keine dieser aussergewöhnlichen Partien, dafür eine, deren Spielzeit inoffiziell nur rund eine Viertelstunde betrug. Den Weg dazu ebnete eine kapitale Fehleinschätzung der FIFA-Granden.

Für die Fussball-WM 1982 in Spanien hatte die FIFA trotz kritischer Stimmen am Status quo festgehalten, auch die letzten beiden Spiele einer Gruppe zeitlich versetzt statt parallel stattfinden zu lassen. Ein Entscheid, der für den Weltverband am 25. Juni 1982 in der "Schande von Gijon" enden sollte. Über 40'000 Zuschauer hatten an jenem Freitagabend in der spanischen Hafenstadt ein entscheidendes Nachbarschaftsduell zwischen Österreich und Deutschland sehen wollen. Sie wurden Zeugen, wie die beiden Teams jeglichen Fairplay-Gedanken ad absurdum führten.

Jupp Derwalls Deutschland und die von Georg Schmidt trainierten Österreicher wussten bereits vor Spielbeginn, welches Ergebnis beide in die Zwischenrunde bringen würde. Algerien, Deutschland und Österreichs Konkurrent um einen der beiden Spitzenplätze, hatte sein Soll in Gruppe 2 am Vortag mit einem 3:2-Sieg über Chile beendet. Deutschland benötigte deshalb zum Abschluss einen Sieg, während Österreich sich eine knappe Niederlage leisten konnte. Deutschland siegte 1:0.

Weisse Flaggen nach der Verbrüderung

Bis zur 11. Minute taten die beiden Teams das, was die Zuschauer erwartet und sich erhofft hatten. Sie spielten Fussball, Deutschland besser als Österreich, bis Horst Hrubesch eine Flanke von Pierre Littbarski zum 1:0 versenkte. Wenig später verfielen beide Teams in eine Lethargie, die im Fussball ihresgleichen sucht. Über eine Stunde taten Österreich und Deutschland alles, um das 1:0 gegenseitig abzusichern.

Spieler wie Walter Schachner, die von der inoffiziellen Absprache nichts mitgekriegt oder sie ignoriert hatten, wurden von Teamkollegen lautstark zurecht gewiesen. ARD-Kommentator Eberhard Stanjek bezeichnete die ostentative Art, mit der Deutschland und Österreich ihren Nichtangriffspakt zelebrierten, als "schändlich". Edi Finger sprach im Österreichischen Rundfunk von der "grössten Verbrüderung zwischen Deutschland und Österreich seit März 1938".

Die Direktbeteiligten konnten ihrem Verhalten derweil wenig Verwerfliches abgewinnen. "Das Publikum ist dumm, wenn es nicht begreift, dass es hier nur ums Weiterkommen ging", sagte etwa Deutschlands Paul Breitner, während sich der österreichische Delegationsleiter gar zu einer unangemessenen Aussage in Richtung der ohnehin düpierten Algerier verstiegen haben soll: "Natürlich ist heute taktisch gespielt worden. Aber wenn jetzt deswegen hier 10'000 Wüstensöhne im Stadion einen Skandal entfachen wollen, zeigt das doch nur, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die Klappe aufreissen zu können."

Die spanischen Zuschauer sorgten im Stadion für die passende Ambiance des unwürdigen Ballgeschiebes und schwenkten weisse Taschentücher. Eine Geste, die in spanischen Stierkampfarenen ihren Ursprung hat, und mit der das Publikum dort seinen Unmut über das Geschehen zum Ausdruck bringt. In Gijon konnten die kleinen weissen Flaggen am 25. Juni auch anders gedeutet werden: als Kapitulation des Fairplay-Gedankens im Fussball.

Mit dem Ausgang dieses Spiels hatten dies plötzlich auch die grossen Fussball-Verbände erkannt, bereits für die Europameisterschaft 1984 in Frankreich passte die UEFA den Spielplan an. Nie mehr würden an einer internationalen Endrunde die letzten Gruppenspiele zeitlich versetzt stattfinden. (sda)

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