Stephan Santschi
Stephan Santschi
Stephan Santschi
«In den USA könnte man diese Geschichte verfilmen», meinte Patrick Magyar im Sommer 2010. Der frühere Direktor von «Weltklasse Zürich» war wie viele verblüfft über das unglaubliche Comeback von Viktor Röthlin, der in Barcelona zu EM-Gold im Marathon gelaufen war. «Die Geschichte würde man wohl genau so schreiben. Märchencharakter hat das ganze schon», blickt Röthlin heute mit einem Lächeln auf den wichtigsten Moment seiner Profikarriere zurück. «Sportlich war es nicht meine grösste Leistung», betont er zwar. «Dass am Ende aber alles so perfekt aufgegangen ist, obwohl alles dagegen gesprochen hatte, war der Wahnsinn.»
Zwei Jahre lang hatte Röthlin aus gesundheitlichen Gründen nämlich keinen Marathon mehr bestritten. Im Frühjahr 2009 schwebte er sogar in Lebensgefahr, weil ein Thrombus in der rechten Beckenvene zu zwei Lungenembolien geführt hatte. Später sorgte eine Fersenoperation für einen Dämpfer. «Ich wusste nicht, ob es für mich im Spitzensport nochmals ein Zurück geben würde.» In einer Umfrage des «Blick» hatten ihn 84 Prozent der Teilnehmer bereits abgeschrieben.
Dann kam dieser unvergessliche 1. August 2010.
Ausgerechnet am Schweizer Nationalfeiertag verewigte sich der damals 35-jährige Obwaldner in der Marathon-Historie.
Seine Eltern zu Hause in Kerns schauten sich den Wettkampf nicht an, gingen spazieren. «Sie hatten Angst um meine Gesundheit.» Im 1000 Kilometer entfernten Barcelona überquerte ihr Sohn die Ziellinie mit über zwei Minuten Vorsprung auf den Lokalmatadoren José Manuel Martínez – welch eine Dominanz! «Von der Konkurrenz kam eher wenig. Es schien, als hätten alle vergessen, sich auf die Hitze einzustellen», erinnert sich Röthlin. Kaum ein anderer habe sich zum Beispiel mit Kühlwesten vorbereitet. Er selber war mit heissen und feuchten Bedingungen schon immer gut klargekommen.
Empfang von Viktor Röthlin am Flughafen Zürich:
So leicht und locker sein Lauf über die 42,195 Kilometer durch die spanische Metropole aussah, so hart war der Weg dorthin. «Bei einem Beinbruch weisst du, dass der Knochen nach etwa acht Wochen verheilt ist. Bei einer Zerrung ist der Muskel gewöhnlich nach sechs Wochen wieder belastbar. Kein Arzt kann dir aber sagen, wie lange es braucht, um eine Lungenembolie auszukurieren», erzählt Röthlin.
Eine Punktlandung, die nicht planbar ist
Diese Ungewissheit sei sehr belastend gewesen, und wenn er heute von Sportlern kontaktiert werde, die auch an einer Lungenembolie erkrankt seien, könne er ihnen nur erklären, dass jeder Fall einen individuellen Verlauf habe.
Das wichtigste Puzzlestück für das Comeback von Viktor Röthlin war die Erkenntnis, dass der Körper der hohen Trainingsbelastung wieder standhielt, dass er konsequent auf den Tag X hinarbeiten konnte. Eine Punktlandung wie jene in Barcelona ist indes nicht planbar, sie hat in der Tat etwas Märchenhaftes an sich. «Zwei Wochen vorher wäre ich noch nicht bereit gewesen.» Anstatt, wie ursprünglich angedacht, die Karriere 2011 zu beenden, nutzte Röthlin die Gunst der Stunde, profitierte vom Höhenflug auch finanziell und trat erst 2014 zurück – an der stimmungsvollen Heim-EM in Zürich mit einem fünften Rang.
Der Blick auf seine Karriere offenbart dabei viele weitere Highlights. Erstmals ins internationale Rampenlicht lief Röthlin 2005 mit dem siebten Platz in New York City. 2006 gewann er in Göteborg EM-Silber, 2007 in Osaka WM-Bronze. 2008 siegte er in Tokio mit persönlicher Bestzeit und damaligem Schweizer Rekord (2:07:23-Stunden), zudem holte er in Peking das Olympia-Diplom. Über allem aber steht dieser EM-Titel vom 1. August 2010, als ein Schweizer an unserem Nationalfeiertag ein Märchen schrieb.
Hinweis
In unserer Serie «Mein Moment» blicken Zentralschweizer Sportlerinnen und Sportler auf prägende Ereignisse ihrer Karriere zurück. Bereits erschienen sind die untenstehenden Artikel:
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