Massnahmen? Gewiss, es braucht sie, um den Missbrauchsfällen Einhalt zu gebieten. Nur ist die Frage, ob Massnahmen allein entscheidend zur Verbesserung der prekären Situation beitragen können. Vergessen wir nicht: Viele noch heute lebende Menschen haben die Kirche vor allem als moralische Institution erlebt; und sie hat ihrerseits ebenso das Christentum auf Moral reduziert, also ebenfalls auf Massnahmen. Denn diese Moral war ja vor allem eine Gebotsmoral. Mit Geboten und Reglementen allein wird das gemeinschaftliche Leben aber nicht wirklich optimiert. Jedenfalls wurden sexuelle Verfehlungen bis in die Sechzigerjahre im katholischen Schrifttum als Todsünden, ja als die Prüfsteine für christliches Leben dargestellt – diese Moral aber hat den sexuellen Missbrauch offensichtlich nicht weggefegt.
Dümmer noch: Gerade eine solche Moral verhalf dem Bösen möglicherweise zum Durchbruch. Sie verkehrte sich also ins Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht: «Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.» So formulierte es der Apostel Paulus im 7. Kapitel des Römerbriefs. Richtig gelesen: Ausgerechnet Paulus! Und dies als Kritik an einseitiger Betonung der Gesetzeswelt. Das Übermass von Gesetzen, Reglementen und Vorschriften aus heutigen Verwaltungen, so etwas wie eine stillschweigende Fortsetzung des Moralgepolters von einst, hätte Paulus wohl auch nicht gefallen. Es schafft in unserer Turbogesellschaft ein menschliches Manko, das in die Kompensation treibt; da es aus einem Mangel an Liebe kommt, auch in die Kompensation durch Sexualität – eben: in ein Verhalten, «das ich nicht will».
Unsere Moral müsste wieder empathischer werden, das heisst, wegkommen von abstrakten Paragrafen. So könnten Menschen konkrete Beziehungen zu anderen Menschen pflegen – und in eins damit das finden, was sie auch in überbordenden sexuellen Begegnungen suchen: Anerkennung.