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Eingesandt:  Leserbrief

Ein Gespräch mit Putin nützt nichts

Zum Ukrainekrieg und der Schweizer Neutralität

Geschätzter Urs Tschümperlin, Sie äussern sich im «Boten der Urschweiz» zur schweizerischen Neutralitätspolitik im Krieg in der Ukraine. Ich erlaube mir eine Replik:

Jedes Land pflegt seine Mythen. Das ist legitim. Es schadet aber nichts, solche Mythen hie und da einem «Reality-Check» zu unterziehen. Wilhelm Tell, zum Beispiel, ist ein Mythos. Und die schweizerische Neutralität? Neutral war die Schweiz nie, im Zweiten Weltkrieg schon gar nicht. Eine Kanonenfabrik in Oerlikon lieferte dermassen Flugabwehrgeschütze nach Deutschland, dass sich die Schweiz dem späteren Vorwurf aussetzte, sie habe damit den Krieg verlängert. Ein Bergwerk im Sarganserland war für den Nachschub von Eisenerz nach Deutschland besorgt. Echte Neutralität sieht anders aus.

In der heutigen Welt der globalen wirtschaftlichen Verflechtungen neutral zu bleiben, ist unmöglich. Es ist sinnlos, diesen Mythos heraufzubeschwören. Wenn wir zulassen, dass russische Oligarchen mit Firmensitz in Zug weltweit Rohstoffe aufkaufen, dann verscherbeln und die Gewinne nach Russland überweisen – ist das noch gelebte Neutralität?

Ein Gespräch mit unserem Aussenminister in Moskau hätte nichts gebracht. Ein Gespräch ist nur dann nützlich, wenn die andere Seite zuhört. Der deutsche und der französische Staatschef haben mit Putin gesprochen. Das Resultat kennt man.  

Sie nennen die Tatsache, dass Russland die guten Dienste der Schweiz ablehnte, einen Tiefpunkt unserer Aussenpolitik. Ich sehe es umgekehrt. Wenn sich die Schweiz von einer Grossmacht wie Russland vorschreiben lässt, was neutral ist und was nicht, ist sie schon verloren – die Unschuld der Neutralität! Mit peinlichen politischen Verrenkungen ungefragten guten Diensten nachzurennen, damit macht sich ein Land nur lächerlich. 

Ich werte die Übernahme der von der EU verhängten Sanktionen nicht als «neutralitätspolitisches Abenteuer», sondern als mutigen Schritt unserer Landesregierung zur Anerkennung der aussenpolitischen Realität. Dass dabei der Abstrich an einem geliebten Mythos schmerzt, kann ich verstehen.