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Nidwalden

Zypressenlaub

Franziska Ledergerber schreibt im «Ich meinti »über nachbarliche Animositäten.

Nachbarstreit gibt es immer und überall. Im nachfolgenden Fall entzündete sich die Auseinandersetzung am Holz einer schlanken Zypresse im stattlichen Alter von hundert Jahren. Die Geschichte nahm vor fünf Jahren ihren Anfang. Auf dem nachbarschaftlichen Grundstück eines Bekannten fand ein Besitzerwechsel statt. Die neuen Besitzer wünschten, besagte, auf dem Grundstück unseres Freundes stehende Zypresse zu fällen, weil sie gefährlich sei. Oder implizit und ehrlicher: weil sie jeweils am Nachmittag auf den Sitzplatz und den Pool ihren Schatten wirft.

Unser Freund konnte und wollte diesem Wunsch nicht folgen, denn immerhin stand der Baum bereits schon fünfundneunzig Jahre vor deren Hauskauf und bestimmt sechzig vor deren Geburt tief verwurzelt an gleicher Stelle. Nun mischte sich aber ein anderer Nachbar ein, und fand, unser Freund sei ein Egoist, er solle gefälligst den Baum umtun – aus Nächstenliebe. Nicht etwa aus Nettigkeit oder Anständigkeit. Nein, Nächstenliebe wiederholte er im heiligen Ernst. «Was», erwiderte unser Freund empört, «ich soll eine hundertjährige Zypresse fällen, nur weil meine Nachbarn zu faul sind, ihre Liegestühle zu verschieben! Was hat denn das mit Nächstenliebe zu tun». Zur Entlastung der Neuzugezogenen muss noch gesagt werden, dass während eines Wintersturmes ein herunter gefallener Ast auf ihr Grundstück für Aufregung sorgte. Daraufhin wurde der Baum aber einer Expertise unterzogen, überfällige Äste geschnitten, andere fixiert und letztendlich als vollkommen gesund taxiert.

So weit so gut, an dieser Stelle möchte ich nicht weiter auf den Streit um den Baum eingehen. Viel mehr auf den Begriff Nächstenliebe. Kann man dieses Wort überhaupt im Zusammenhang mit einer nachbarschaftlichen Auseinandersetzung ins Feld führen? Im Matthäusevangelium antwortet Jesus auf die Frage, was im Leben am wichtigsten sei: «Liebe Gott mit dem ganzen Sein und liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.» Behandle ihn mit Wertschätzung, Uneigennützigkeit oder Barmherzigkeit.

Nun, da der dritte Nachbar den einen als Egoisten bezeichnete, ergriff er Partei für die anderen. Das Argument der Nächstenliebe verkam zur Worthülle. Die starke, biblische Aussagekraft verlor ihren Sinn. Ebenso hätte er das Schwert der Barmherzigkeit in die Brust der Neuzugezogenen stossen können. Da ich zufällig Zeuge dieser Auseinandersetzung wurde, hörte ich, wie der Baumbesitzer dem Verfechter der Nächstenliebe vorwarf, nicht ganz bei Trost zu sein. Das wiederum liess der nicht auf sich sitzen und sagte, es gäbe schliesslich genug Bäume und stellte die rhetorische Frage, wer da wohl nicht ganz bei Trost sei – wir standen am Waldrand. Da kam die Schwester des «Egoisten» hinzu und legte dem Dritten ans Herz, selber Nächstenliebe zu üben und sich nicht in fremde Angelegenheiten zu mischen, die ihn nichts angingen. Nächstenliebe heisse schliesslich auch innere Grenzen der anderen zu respektieren.

So schlugen sich die lieben Nachbarn gegenseitig die Nächstenliebe um die Ohren, derweil ein feiner Windstoss die Zweige der Zypresse leise erzittern liess.

Franziska Ledergerber, Hausfrau und ausgebildete Lehrerin, Hergiswil, äussert sich an dieser Stelle abwechselnd mit anderen Autoren zu einem selbst gewählten Thema.

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