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Zug

Tierquälerei: Zentralschweizer Behörden ahnden weniger Delikte – Kritik kommt vom Tierschutz

Seit zwei Jahren gehen die Zentralschweizer Strafverfolger weniger Tierschutzdelikten nach. Aktuelle Justizdokumente geben jetzt einen Einblick in Ställe und Privatwohnungen, in denen Tragisches passiert.
Interessierter Blick, grosser Appetit. Nicht auf jedem Schweizer Hof ist die Situation so idyllisch wie hier.  (Symbolbild: Britta Gut)

Kilian Küttel

Als die Kontrolleure die Schwelle überschreiten, betreten sie eine Welt des Leids. Junge Rinder liegen in ihrem eigenen Dreck; getrockneter Kot verkrustet ihr Fell, auf dem Boden findet sich praktisch kein Sägemehl. Zwei Kühe müssen ein Bein anheben, weil sie wegen unbehandelter Abszesse nicht darauf stehen können. Bei zwei weiteren hängt der Elektrobügel über dem Rücken so tief, dass ihnen permanent Stromschläge drohen. Und ein schmutziges Dromedar kann sich kaum vom verdreckten Boden hochhieven, weil sich eine Sehne entzündet hat, die seit sechs Wochen niemand richtig behandelt.

Eineinhalb Stunden dauert die Inspektion am Morgen des 16.Aprils 2019 auf einem Zentralschweizer Hof, die am Ende eine Sache für die Justiz wird: Vier Monate nach der Kontrolle verurteilt die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 100 Franken und zu 2500 Franken Busse.

220 Strafverfahren in der Zentralschweiz

Das geht aus einem Strafbefehl hervor, den unsere Zeitung beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen mit Verweis auf das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung eingesehen hat – zusammen mit 219 anderen Urteilen, Strafbefehlen, Einstellungs- und Nichtanhandnahmeverfügungen, welche die Zentralschweizer Kantone dem Bund vergangenes Jahr gemeldet haben.

Im ganzen Land sammelten sich 1918 Fälle an. Das berichtet die «Sonntagszeitung», die auch schreibt, die Schweizer Behörden hätten letztes Jahr so viele Tierschutzdelikte verfolgt «wie seit langem nicht mehr». Im Ganzen mag diese Betrachtung stimmen, in der Zentralschweiz indes sinken die Zahlen: von 237 im Jahr 2017 auf 230 und schliesslich auf 220 im letzten Jahr.

Für Bianca Körner von der Stiftung für das Tier im Recht eine bedenkenswerte Tendenz:

«Man ist vielleicht zur Annahme verleitet, ein Rückgang der Zahlen ist ein gutes Zeichen. Das stimmt aber nicht.»

Nur, weil es weniger Verfahren gebe, heisse das nicht, dass weniger Tiere misshandelt würden: «Eine Zunahme der Fälle würde zeigen, dass Verstösse gegen das Tierschutzgesetz ans Licht kommen und konsequent geahndet werden. Besonders bei Nutztieren ist das wichtig, da bei Missständen auf Landwirtschaftsbetrieben oftmals nicht nur einzelne, sondern gleich mehrere Tiere leiden – und das jahrelang.»

Bauer brachte Sau nicht direkt zur Notschlachtung

Ganz anderer Meinung sind die Behörden, wie das Beispiel des Laboratoriums der Urkantone zeigt. In seinem Jahresbericht 2019 schreibt Kantonstierarzt Andreas Ewy, das Labor habe «erfreulicherweise» weniger Verstösse bei Nutztieren angezeigt.

Ein ähnliches Bild zeigt sich im Kanton Zug: Vergangenes Jahr wurden beim Bund 17 Straffälle aus Zug aktenkundig. Nur dreimal waren Nutztiere involviert: Zwei Urteile gab es für einen Zwischenfall mit einer Muttersau, die an einem Mastdarmvorfall litt. Ein Zuger Bauer liess die Sau nicht direkt in eine Notschlachtstelle bringen, wofür ihn die Staatsanwaltschaft mit 1000 Franken büsste. Der Chauffeur, der sie mit anderen Tieren zum normalen Schlachthof fuhr, erhielt 400 Franken Busse.

Beim dritten Fall riss ein Hofhund zwei Schafe auf dem eigenen Betrieb. Weil der Landwirt mit dem Verlust seiner Tiere schon genug gestraft war, stellten die Justizbehörden das Verfahren ein.

Seit Jahren schwanken die Fallzahlen in Zug zwischen 13 und 23. Kantonstierarzt Rainer Nussbaumer hat dafür eine gänzlich andere Begründung als Tierschützerin Körner: Die Zuger Bauern schauen ganz einfach gut zu ihrem Vieh. Oder um aus Nussbaumers schriftlicher Antwort zu zitieren: «Im Kanton Zug werden die Nutztierhaltungen auf einem hohen tierschützerischen Niveau geführt.»

Luzerner Bevölkerung hat offene Augen

Ein möglicher Grund für den Kantonstierarzt: Zuger Höfe liegen selten abgelegen. «Dadurch steht jeder Betrieb im öffentlichen Fokus und die Betriebsleiter nehmen ihre Verantwortung wahr», so Nussbaumer.

Seit 2015 verfolgt der Kanton Zug durchschnittlich 17 Tierschutzdelikte im Jahr. Damit liegt Zug an dritter Stelle im Zentralschweizer Vergleich. Weniger Fälle weisen die Kantone Obwalden (16) und Uri sowie Nidwalden (je 11) aus. Mit Abstand am meisten Verfahren führt die Justiz im Kanton Luzern; 146 waren es im letzten Jahr, 128 durchschnittlich seit 2015. Der Luzerner Kantonstierarzt Martin Brügger erklärt die Spitzenposition Luzerns mit der Kantonsgrösse. Interessant: Mit Ausnahme des letzten Jahres steigt im Kanton Luzern die Zahl der Verfahren stetig – anders als im Rest der Zentralschweiz, wo die Zahlen entweder schwanken oder gar sinken. Dazu sagt Brügger, die Bevölkerung sei «sensibilisierter» für das Tierwohl:

«Damit werden dem Veterinärdienst mehr Verstösse gemeldet oder bei der Polizei zur Anzeige gebracht.»

Im Kern passiert in Luzern also das, was sich Tierschützer wünschen. Bleibt noch der Kanton Schwyz, wo die Zahlen seit 2017 zurückgehen und bei mittlerweile 33 liegen.

Schwyzer Ehepaar hält über 100 Reptilien

In Schwyz spielte sich wohl der spektakulärste der 220 Zentralschweizer Fälle ab: In der eigenen Wohnung hält ein Ehepaar 26 Kornnattern, 38 Königs-, 3 Tigerpythons, eine Boa constrictor und weitere Tiere. Zusammen 103 Reptilien in 55 Terrarien, die meist zu klein und erst noch «stark bis sehr stark verschmutzt» sind.

In der Wohnung laufen zwei Grüne Leguane frei herum, leben zwischen Abfall, Kabeln und vollen Aschenbechern. Eine Schlange ist von Parasiten befallen und deshalb stark abgemagert. Sie ringt mit dem Tod. Doch statt sie zu einem Tierarzt zu bringen, geben ihr die Besitzer ein Medikament für Menschen. Die zweifelhafte Behandlung nützt nichts, die Schlange stirbt. Am 5. September 2017 kontrolliert das Laboratorium der Urkantone die zwei Reptilienhalter ein erstes Mal. Bis zum 24. April 2018 setzt es zwei Nachkontrollen an, ohne dass sich die Situation bessert. Am Ende spricht die Staatsanwaltschaft bedingte Geldstrafen aus: 90 Tagessätze à 70 Franken für die Frau, 90 Tagessätze à 120 Franken für den Mann. Hinzu kommt für beide eine Busse von 4770 und 5900 Franken.

Die Stiftung für das Tier im Recht fordert von den kantonalen Behörden ein frühes Einschreiten, wenn sie Meldungen von Missständen erhalten. Und Verstösse sollen früh mit Strafen geahndet werden, die abschreckend wirken. Zum Schwyzer Reptilienfall sagt Tierschützerin Bianca Körner: «In diesem Fall liegt eine Mehrfachbegehung vor, die sich gemäss Strafgesetzbuch strafschärfend auswirken müsste. Angesichts der bedingten Strafen ist fraglich, ob die Staatsanwaltschaft diesem Grundsatz genügend Rechnung getragen hat.»

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