notifications
Zug

Zug: Die Zeit ist reif

Der Regierungsrat hat 400 000 Franken aus dem Lotteriefonds für die «Historische Aufarbeitung der sozialen Fürsorge» gesprochen. Die Finanzspritze soll auch ein Signal an Gemeinden und Organisationen sein.
Im Kanton Zug wurden Kinder etwa im Kinderheim Walterswil in Baar (links) untergebracht. In Schlafsälen wie jenem vom Kinderheim Marianum in Menzingen fanden die Kinder ein Bett (oben rechts). In einem Brief bedankt sich eine Betroffene heute bei der Zuger Frau Landammann, Manuela Weichelt. (Bild: Bilder: Einwohnergemeindearchiv Baar (Foto- und Postkartensammlu)

Andrea Muff

Es ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte: die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Lange waren die sogenannten Verdingkinder in der Öffentlichkeit ein Tabuthema und auch wissenschaftlich fand kaum eine Aufarbeitung statt. Mit dem am 1. April 2017 in Kraft getretenen Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) änderte sich dies grundlegend (siehe Box). Im Staatsarchiv Zug nahmen die Aktensuchanfragen von 2013 (1) bis heute stetig zu – insgesamt liegt die Zahl inzwischen bei 104. Ende März ist die Frist, um beim Bund ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag zu stellen, abgelaufen.

Das heisst aber nicht, dass nun die Akten wieder in den Schränken verschwinden: Der Regierungsrat hat im Juli 400 000 Franken aus dem Lotteriefonds für die «Historische Untersuchung der sozialen Fürsorge im Kanton Zug» gesprochen. «Wir wollen mit dieser Finanzierung ein Zeichen setzen. Es soll ein Signal an die Einwohner- und Bürgergemeinden, Kirchen, Organisationen und Stiftungen sein, ebenfalls einen Beitrag zu leisten», erklärt Frau Landammann Manuela Weichelt-Picard, Direktorin des Innern. Denn insgesamt wird mit einem Totalaufwand von 900 000 Franken gerechnet. Die Federführung des Projekts, das heisst, das Administrative obliegt der Direktion des Innern, die wissenschaftliche Begleitung des Forschungsvorhabens dem Staatsarchiv Zug. Dieses setzt für die Forschungsarbeiten die Beratungsstelle für Landesgeschichte aus Zürich ein. «Bei vielen Opfern ist die Aufarbeitung wichtiger als die finanzielle Wiedergutmachung. Sie möchten wissen, ob anderen Ähnliches wiederfahren ist, dass darüber gesprochen wird und aus den Erkenntnissen für die Zukunft gelernt wird», so Weichelt.

Ende 2021 soll die Studie vorliegen

Das Kernforschungsteam besteht aus zwei Historikern. Um aber all die Akten zu sichten, auszuwerten und um gegebenenfalls Interviews mit Betroffenen zu führen, werden vom Zürcher Büro noch weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rekrutiert. «Das Forschungsbüro hat eine seiner Kernkompetenzen bei Fragestellungen bezüglich sozialer Fürsorge», sagt Staatsarchivar Ignaz Civelli. Ende 2021 soll die Studie in gedruckter Form vorliegen. «Wir möchten aber nicht nur eine wissenschaftlich fundierte Studie, sondern die Geschichte der sozialen Fürsorge und die in der Studie enthaltenen Schicksale sollen auch für alle verständlich vermittelt werden», erklärt Civelli weiter. Man denke etwa an einen Tag der offenen Tür im Staatsarchiv, später auch eine etwas grössere Ausstellung. Forschungsergebnisse und Materialen sollen zudem online zugänglich gemacht werden und für weitere Forschungen zur Verfügung stehen.

«Grosses Misstrauen gegenüber Behörden»

Das Ziel des Projekts ist, einen umfassenden Gesamtblick auf die soziale Fürsorge im Kanton Zug zu bieten. «Es geht überhaupt nicht darum, beispielsweise eine Organisation oder Gemeinde an den Pranger zu stellen», erklärt der Staatsarchivar weiter und Manuela Weichelt betont: «Für eine neutrale Aufarbeitung des Themas braucht es einen gewissen zeitlichen Abstand, aber jetzt ist es fünf vor zwölf. Viele Betroffene sind bereits verstorben. Wir dürfen damit nicht länger warten.» Die Zeit sei reif. Ignaz Civelli weiss, dass sich hinter den 104 Aktensuchanfragen viele sehr tragische Geschichten verbergen. «Aber ich habe auch Erfreuliches in den Akten gefunden, wo Behörden umsichtig gehandelt haben und Betroffene Liebe und Fürsorge erfahren konnten», stellt er fest.

Die Aktensuche sei nicht einfach gewesen: Wichtige Unterlagen seien oft in den Archiven der Gemeinden, in anderen Kantonen oder den Archiven der Heime zu finden gewesen, verrät Civelli. «Wir haben in den letzten Jahren sehr viel darüber gelernt, wo wichtige Akten zu finden sind. Die Lebenswege der betroffenen Personen und damit auch die Aktenspuren sind sehr verschlungen.» Er lobt die Zusammenarbeit innerhalb des Kantons, aber auch mit den Gemeinden, Organisationen und der Opferberatung. Und er ergänzt: «Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es ein grosses Bedürfnis der Betroffenen war, über ihr Schicksal zu sprechen.» Oft habe er die Sätze «Danke, dass Sie uns zugehört haben. Das hat jetzt gut getan» gehört. Wichtig sei auch, die Betroffenen über ihre Rechte aufzuklären. «Unter ihnen herrschte anfänglich ein grosses Misstrauen gegenüber Behörden.» Das sei nun aber mehrheitlich Vertrauen gewichen, fügt Civelli hinzu.

Wie wichtig das Thema ist, zeigen auch die Reaktionen aus der Bevölkerung. «Ich werde oft darauf angesprochen und betroffene Familienangehörige erzählen mir ihre Geschichte», so Frau Landammann. Sie blättert in einem Papierstoss und fördert einen bunten, mit Zeichnungen und Rosen verzierten Brief zutage. Auf ein paar Zeilen bedankt sich eine Betroffene für das Engagement von Manuela Weichelt und erzählt von einem Knecht, der früher bei ihnen auf dem Hof gearbeitet hätte und ein Verdingkind gewesen sei. «Ich gebe zu, es ist für mich eine Herzensangelegenheit», sagt Manuela Weichelt. Sie sei froh, dass sie noch vor Legislaturende das Projekt habe ankurbeln können. Sie tritt am 7. Oktober nicht mehr zur Wiederwahl an. Und auch für Ignaz Civelli ist es eines der letzten Projekte. «Es ist gut aufgegleist und durch die professionellen Strukturen nicht an Köpfe gebunden», sagt der Staatsarchivar, der Ende Jahr vorzeitig in Pension geht. Mit Ernst Guggisberg habe man einen fähigen Nachfolger gefunden. So war er etwa auch als Mitarbeiter für die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (UEK) tätig.

Kompetenz liegt bei den Gemeinden, Beiträge zu sprechen

Das Thema der historischen Aufarbeitung und dessen Finanzierung war auch auf der Traktandenliste der Gemeindepräsidentenkonferenz (GPK). Vergangene Woche wurde darüber debattiert, wie von Andreas Hotz, Gemeindepräsident Baar und Vorsitzender der GPK, zu erfahren ist. Die Konferenz habe entschieden, dass die jeweiligen Stadt- und Gemeinderäte in eigener Kompetenz über das Projekt beraten und allfällige Beiträge sprechen sollen. Hotz äussert allerdings aus Skepsis: «Einige Vertreter der GPK zeigten sich in spontanen Äusserungen jedoch der Auffassung, dass das Projekt ‹prima vista› als sehr kostspielig erscheint.» Mit der Zusprache des Betrages aus dem Lotteriefonds würden «die weiteren angesprochenen Organisationen mit dieser Anschubfinanzierung einem leichten Druck ausgesetzt», so Hotz.

Kommentare (0)