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Luzern

Zehnjähriger Autist wird im Zug geohrfeigt – weil er keine Schutzmaske trug

Ein zehnjähriger Bub wurde im Zug von einem fremden Mann geschlagen. Für den Jungen, der Autist ist, hat der Vorfall eine traumatische Wirkung.
In Luzern stieg der cholerisch wirkende Mann in die S-Bahn.

(Bild: Adrian Baer)
Oliver Bilke-Hentsch, 
Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik Luzern

Sandro Renggli

Sandro Renggli

Der zehnjährige Janick war mit dem Zug unterwegs, als beim Bahnhof Luzern ein Mann zustieg. Der laut fluchende, cholerisch wirkende Mann fing an, den Jungen zu beschimpfen. Was den Angreifer zur Weissglut trieb: Janick trug keine Schutzmaske. Die Situation eskalierte so weit, dass der Mann Janick eine Ohrfeige gab. Schliesslich eilten Jugendliche Janick zu Hilfe und wiesen den Mann weg. Der Vorfall, der für jedes Kind traumatisch wäre, ist für den zehnjährigen Jungen noch schlimmer: Janick ist Autist.

Es war erst das zweite Mal, dass Janick alleine mit dem ÖV fuhr. Für ihn ein riesiger Schritt: weil der Zehnjährige von frühkindlichem Autismus betroffen ist, braucht er meist spezielle Betreuung. So war er denn auch auf dem Heimweg von der Sonderschule in Sursee, die er besucht, als sich der Vorfall ereignete. Ein Weg, den er aufgrund seiner Entwicklungsstörung erst seit kurzem alleine auf sich nimmt.

Eltern haben Anzeige erstattet

«Als Janick nach Hause kam, ist uns gleich aufgefallen, dass etwas nicht stimmt», erzählt Daniela, die Mutter des Jungen. (Nachname der Redaktion bekannt.) Janick habe ein rotes Gesicht und ein rotes Auge gehabt. «Als er uns schliesslich erzählt hat, was passiert ist, waren wir schockiert.» Die in Root wohnhaften Eltern empfinden Wut und Bestürzung über den Angriff auf ihren Sohn. Das Verhalten des Mannes ist für sie absolut unverständlich:

«Wie kann man bloss ein Kind schlagen?»

Den Täter hat die Familie angezeigt. Die Luzerner Polizei bestätigt auf Anfrage, dass eine Anzeige gegen Unbekannt eingegangen ist. Man habe Janicks Angreifer aber noch nicht finden können.

Menschen sollen auf Autismus sensibilisiert werden

Obwohl Janick vorher noch nie tätlich angegriffen wurde, hat er auch sonst oft mit Anfeindungen zu kämpfen. «Es gibt immer wieder Leute, die kein Verständnis für die Krankheit haben», erzählt Daniela.

«Für viele sind autistische Kinder einfach ‹schwierige› Kinder.»

Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Luzerner Psychiatrie, bestätigt diesen Eindruck: «Das Phänomen Autismus hat man bis in die 1940er- bis 50er-Jahre gar nicht richtig erkannt.» Andererseits nehme die gesellschaftliche Akzeptanz für Menschen mit Autismus kontinuierlich zu. «Dazu trägt unter anderem die starke mediale Präsenz der Störung bei. Menschen mit Autismus werden gerade in Filmen und Serien gerne porträtiert», so Bilke-Hentsch.

Zudem trage die Arbeit von Autismus-Organisationen dazu bei, das Verständnis für autistische Personen zu vergrössern und damit der Stigmatisierung entgegenzuwirken. Der Verein Autismus deutsche Schweiz (ads) ist die grösste solcher Organisationen hierzulande. «Die Sensibilisierungsarbeit ist uns sehr wichtig», erklärt die Geschäftsleiterin Regula Buehler. «Auch wenn die Akzeptanz zunimmt: Viele Menschen wissen zu wenig über diese Beeinträchtigung. Das erschwert den Alltag für Menschen mit Autismus enorm.»

Autisten brauchen oft einen stark geregelten Tagesablauf. «Konstanz im Alltag ist für Menschen mit Autismus elementar», so Buehler. Störungen und Veränderungen dieser Ordnung seien darum umso schwieriger, bestätigt Bilke-Hentsch. «Autisten achten auf Details, sie spüren Nuancen, die andere nicht spüren.» Gleichzeitig können aber auch schon kleinste Reize zum Problem werden.

Autisten müssen keine Maske tragen

Eine Schutzmaske tragen müssen die meisten Autisten deshalb auch nicht, sie haben meist ein ärztliches Attest. Der Verein Autismus deutsche Schweiz hat für Betroffene zudem Infoblätter gedruckt, auf denen der Grund für das Nichttragen der Maske erklärt wird. Autisten können diese dann bei Bedarf vorzeigen:

Janick hätte allerdings so oder so keine Maske tragen müssen. Die Maskenpflicht gilt erst ab 12 Jahren – Janick ist zehn. Nach dem Vorfall war er zunächst wieder in Begleitung von Betreuungspersonen zur Schule und nach Hause gefahren. «Der Vorfall war für ihn nicht einfach, zu verarbeiten», erzählt seine Mutter Daniela. «Er ist seither sehr eingeschüchtert.»

Doch Janick hat sich nicht unterkriegen lassen. «Es geht ihm mittlerweile wieder besser», freut sich Daniela. «Und Janick fährt auch wieder alleine mit dem Zug.»

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