Funde aus dem Maderanertal belegen, dass Menschen bereits vor rund 10’000 Jahren Kristalle gesucht hatten – also nach der letzten Eiszeit und lange bevor Menschen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz überhaupt Landwirtschaft betrieben oder Pfahlbauten erstellt haben. Die im Jahr 2013 entdeckten Artefakte in einer Kristallkluft bei der Unteren Stremlücke auf 2800 Meter über Meer sind somit die ältesten Spuren von Menschen in Uri.
Seit einigen Jahren wird die Fundstelle wissenschaftlich untersucht. Federführend sind dabei das Urner Institut «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern und die Abteilung Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Uri. Am Montagabend gab Archäologe Marcel Cornelissen im Historischen Museum Uri einen Einblick in seine Arbeit.
Gletscher konservierte Werkzeuge luftdicht
Die Gletscher geben momentan Orte frei, die während Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden unter dem Eis lagen. Im Jahr 2013 stiess ein Strahler in einer Kluft am Brunnifirn im Maderanertal auf Kristallscherben, ein Hirschgeweih und Holzfragmente. Schnell war klar: In dieser Kluft musste schon einmal jemand nach Kristallen gesucht haben. Die Geweihstange könnte dabei als Werkzeug verwendet worden sein.
Eine Untersuchung ergab, dass die Geweihstange rund 8000 Jahre alt ist und wohl während Jahrtausenden im Eis luftdicht konserviert überdauert hat. Ein Forschungsteam untersuchte daher 2017 die Fundstelle im Auftrag des Kantons Graubünden. «Wir hatten lediglich einen einzigen Tag Zeit», erinnert sich Cornelissen. «Wir sahen aber schnell, dass wir hier noch mehr finden werden und wir die Fundstelle daher genauer analysieren sollten.»
Die Menschen waren äusserst mobil
2020 führte die Abteilung Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Uri eine grössere Grabung durch. «Auf organisches Material und eine Feuerstelle sind wir leider nicht gestossen», sagt Marcel Cornelissen. Sein Team packte rund 1000 Kilogramm Grabungsmaterial in Säcke und flog diese mit dem Helikopter ins Tal. In der Werkstatt wurde das Material gesiebt, sodass 37 Kisten voller Kristallsplitter übrig blieben. Marcel Cornelissen ist nun daran, die Splitter mit dem Mikroskop genau zu untersuchen.
Cornelissen fand unter den Kristallsplitter winzige Werkzeuge, die aus den Kristallen gefertigt worden sind: Bohrer, Messer, Schaber oder Pfeilspitzen. Die meisten sind kaum grösser als 2 Zentimeter. Zudem fand das Forschungsteam heraus, dass die Strahler der Mittelsteinzeit die Kluft zwei Mal aufgesucht hatten: um 7000/8000 und um 5800 vor Christus. Wie die Menschen damals aber an der Abbaustelle gearbeitet haben, wie sie gelebt haben und wie viele sie waren, darüber kann nur spekuliert werden.
Fakt ist aber: Bergkristalle waren in der Mittelsteinzeit wichtige Rohstoffe für die Herstellung von Werkzeugen. Das belegen andere Funde im ganzen Alpenraum. Die Jäger und Sammler der Mittelsteinzeit mussten also zwischen 9500 und 5500 vor Christus weite Teile des Alpenraums durchstreift haben. In den vergangenen Jahrzehnten fanden Archäologen auch an anderen Orten im Gotthardraum Spuren, die auf die Kristallverarbeitung während der Mittelsteinzeit hindeuten – so etwa in Hospental und in Airolo. «Die Kristallkluft am Brunnifirn war nur einer von vielen Aufenthaltsorten dieser mobilen Gemeinschaft», so Cornelissen.
Talmuseum Ursern zeigt Sonderausstellung
Die Projektverantwortlichen planen, die Erkenntnisse ihrer Forschung nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ab dem 16. Dezember 2022 zeigt das Talmuseum Ursern in Andermatt eine Sonderausstellung. (pd/fpf)
Archäologen sind auf Bergsteiger angewiesen
Schmelzende Gletscher geben immer wieder Spuren der Vergangenheit preis. Um diese Funde sicherzustellen, sind Forschende auf die Unterstützung von Berggängern angewiesen: Sie werden angehalten, mögliche Fundgegenstände zu fotografieren, zu markieren und den genauen Standort (mit Koordinaten) den entsprechenden archäologischen Fachstellen oder Behörden mitzuteilen. Für archäologische Funde ist der Kanton zuständig, auf dessen Boden sie gefunden wurden. Funde sollten nur dann mitgenommen werden, wenn sie unmittelbar bedroht sind oder der Ort nicht wiedergefunden werden kann. Die Kontaktdaten der zuständigen Fachstellen findet man online unter www.archaelogie.ch oder www.alparch.ch. (pd)