Jonathan Biedermann
Die Diskussion um Sinn und Unsinn von Integrativer Sonderschulung steht seit Monaten hoch im Kurs. Einzelne Fälle schlugen in jüngerer Vergangenheit hohe Wellen und dienen kritischen Stimmen seither als Beispiel dafür, wie es um die Sonderschulung von beeinträchtigten Kindern im Kanton Luzern generell stehe (wir berichteten).
Fragt man Charles Vincent nach seiner Einschätzung als Leiter der Dienststelle für Volksschulbildung, so entschärft dieser: «Solche Fälle wie in Malters, wo Eltern mit dem Entscheid der Dienststelle nicht einverstanden sind, belaufen sich auf einige wenige pro Jahr.» Von den über 350 Verfügungen pro Jahr höre er in vier bis fünf Fällen in Form einer Beschwerde wieder etwas, wobei vielleicht eine davon vor Gericht lande.
Kanton entscheidet nicht alleine
Die Dienststelle entscheide aber nicht einfach auf Gutdünken, betont Vincent. Einer Verfügung des Kantons gehe eine gründliche Abklärung voraus, wobei alle involvierten Parteien angehört werden. Im Auftrag des Kantons erstellt der regionale Schulpsychologische Dienst ein Gutachten. Daraufhin werden Eltern, Lehrpersonen und die Schulleitung beigezogen, um gemeinsam die vorgeschlagene Lösung zu besprechen.
Natürlich könne es sein, dass Eltern anderer Meinung sind als die Einschätzung des Schulpsychologischen Dienstes, fügt Vincent an:
«Man muss die Situation von Betroffenen ernst nehmen. Die Feststellung, dass ein Kind eine Sonderschulung benötige, bedeutet einen Einschnitt in die Lebensplanung und kann schockierend oder schmerzhaft sein.»
Gerade deshalb sei Kommunikation ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Es sei nichts Aussergewöhnliches, dass Eltern nachfragen, sei es wegen Vorkommnissen in der Schule oder wegen Entscheiden der Dienststelle. Man suche in solchen Fällen immer das Gespräch.
Seit dem Kindergarten in der Regelschule
Wie die Schulbildung von Kindern mit Beeinträchtigungen für alle Betroffenen gelingen kann, zeigt die Schule Neuenkirch. Die zwei Buben Loris und Colin besuchen dort seit dem Kindergarten zusammen die Regelschule. Den Übertritt in die Sekundarschule schafften die beiden im vergangenen Sommer trotz der Herausforderungen, die ihre geistige Behinderung mit sich bringen. Die beiden Schüler, die mit Trisomie 21 zur Welt kamen, seien dort bestens integriert, versichert Schulleiterin Rahel Indermaur.
Für die Schulleitung, die involvierte Lehrerschaft, die Eltern wie alle beteiligten Fachpersonen in Neuenkirch und Luzern war schnell klar, dass sie für Loris und Colin eine Weiterführung der Integrativen Sonderschulung in der Oberstufe anstreben wollen, rekapituliert Indermaur. Bereits ein Jahr im Voraus habe man begonnen, mit der Heilpädagogischen Schule Sursee, mit den Lehr- und Fachpersonen in Neuenkirch und mit den Eltern intensiv nach Möglichkeiten zu suchen.
«Am Ende vieler Gespräche hatte man eine Lösung, die alle Beteiligten zufriedenstellte: Der Kanton segnete den Antrag auf Weiterführung ohne Vorbehalte ab.»
Obwohl der Kanton das letzte Wort spricht, ist die Sonderschulung am Ende Sache der Schulen. Zwar seien diese aus gesetzlicher Sicht verpflichtet, den Entscheide des Kantons umzusetzen. Ob dies auch im Sinne aller Betroffenen gelingt, das hänge dann davon ab, wie gut die Lehrpersonen in der Lage sind, auf die Bedürfnisse der Eltern und der Kinder einzugehen, sagt Charles Vincent. Ein wichtiger Punkt dabei sei auch die zusätzliche Unterstützung, welche die Klassenlehrpersonen dafür erhalten.
Im Zweifelsfall gelte das per Gesetz verankerte Prinzip «integrativ vor separativ». Wenn immer möglich soll für Kinder mit Sonderschulstatus also angepasster Unterricht in der Regelklasse dem Unterricht in einer Sonderschule vorgezogen werden. Allerdings sei die Integrative Sonderschulung nicht immer zielführend, denn bei Verhaltensbehinderungen zum Beispiel sei ein Schulwechsel oft zwingend notwendig. Oder schwerstbehinderte Kinder können in einer Sonderschule in der Regel besser gefördert werden.